„Ich bin so verzweifelt, das Verhalten meines Kindes belastet unsere Familie gerade so unglaublich. Ich habe das Gefühl, dass ich sie nicht mehr lieben kann. Im Gegenteil, ich hasse ihr Verhalten mittlerweile so sehr. Die ganze Wut, sie beschimpft uns, sie macht einfach nicht, was ihr ihr sagen!“.

Solche und ähnliche Sätze lese ich gerade häufiger in bestimmten Facebook Gruppen. Es ist ein Hilferuf. Verbales auskotzen. Und ganz viele andere Eltern springen mit auf und machen mit.

Schlechte Eltern oder was?

Das klingt schrecklich. Bei vielen klingelt nun der Rabeneltern-Alarm und sie greifen insgeheim schon zum Telefon Richtung Jugendamt. Aber wisst ihr was? Ich verstehe euch!!! Ich verstehe diese Verzweiflung. Die Frustration. Auch ich fühle manchmal so. Aber es ist eigentlich nicht Wut auf das Kind, es ist Hilflosigkeit. Es ist Druck von außen es richtig machen zu wollen. Es ist ein Gefühlschaos.

Meine negativen Gefühle liegen manchmal wie ein Schatten über mir. Sie verdecken alles. Ähnlich, wie es damals bei den Depressionen war. Ich empfinde keinerlei Freude für mein Kind, und jedes negative Verhalten brennt tausendfach mehr als normal.

Die Wutspirale

Das ist eine schreckliche Situation. Ich bin ein sehr gefühlsgeladener Mensch. Und empathisch. Ich fühle den Zorn und die Wut meiner Kinder mit. Und die Verzweiflung. Sie wirbeln meine eigenen Gefühle auf, verstärken sie. Stehen meine Kinder unter Spannung, tu ich es auch. Und besonders bei Claire kommt dies ja recht häufig vor.

Doch wo Spannung ist, ist auch Entladung. Diese negativen Gefühle stauen sich an und entladen sich in ungünstigen Momenten. Unkontrolliert. Oft ungerecht. Ihr bemerkt sicher: Meine Emotionen sind ein großes Problem. Mein Problem. Darum arbeite ich daran und versuche verschiedene Ansätze…

Tief verwurzelte Muster

In einem vergangenen Coaching bin ich zu meinem „inneren Kind“ gereist und habe viele Antworten darauf bekommen, warum ich bin, wie ich bin. Alte Muster, die immer wieder auftauchen, die ich immer wieder durchbrechen muss. Gefühle, die ich immer wieder regulieren muss. Denn das habe ich nie gelernt.

Meine Gefühle sollte ich von Kindesbeinen an verstecken. Ich durfte nicht wütend sein, das wurde mir schnell herausgeprügelt. Auch besonders fröhlich sollte ich lieber nicht sein, denn im freudigen Überschwall ist mir so manch Missgeschick passiert (was ich auch von Claire her kenne). Ich habe gelernt meine Gefühle in Schubladen zu verpacken und so gut unter Kontrolle zu halten wie es geht.

Kinder tragen die dunklen Seiten ans Licht

Doch mittlerweile springen diese Schubladen immer wieder auf. Alte Narben reißen auf. Bestimmte Situationen triggern mich. Und dann werde ich wütend. Sehr wütend. Ich werde laut und gemein. Mit meinen Kindern. Mit meinem Mann. Oder mit Internet-Trollen 😉 Die Gefühle überwältigen mich. In meinem Kopf geht der rote Alarm los und dann geht´s in den Angriffs-Modus über. Kein schönes Schauspiel, das sage ich euch.

Das möchte ich unter Kontrolle bekommen. Vor allem in der Schwangerschaft habe ich gemerkt, dass ich – Dank einer Prise Hormone – deutlich schneller explodiere und negative Emotionen förmlich in mich aufsauge. Das sollte aufhören. Aber wie?

Was ist Emotionelle Erste Hilfe?

Die liebe Glucke hat mich auf Emotionelle Erste Hilfe aufmerksam gemacht. Sie selbst hat dadurch ihren Mutterinstinkt wieder entdeckt. Aber was ist Emotionelle Erste Hilfe, kurz: EEH überhaupt? Ist das nicht eigentlich was für Baby-Eltern? Jein. Ich möchte euch das mal „kurz“ vorstellen.

Grundsätzlich ist EEH dazu da, die emotionale Bindung zwischen Eltern und Baby zu unterstützen und bewahren. Gerade Eltern von sogenannten „Schreibabys“ kommen ja häufig an ihre Grenzen und stehen stark unter Strom.

Was ihr bei der EEH machen könnt

Die EEH geht davon aus, dass ein feinfühliger, liebevoller Dialog zwischen Eltern und Baby aber nur dann gelingt, wenn der Körper entspannt ist. Und daran setzt EEH an. Durch verschiedene Elemente, wie Gesprächsbegleitung und Körpertherapie, lernen Eltern auf die Signale ihres Körpers zu achten. Zur Körpertherapie gehören beispielsweise:

  • bindungsfördernde Körperberührungen
  • Übungen zur Körperwahrnehmung
  • entspannungsfördernde Atemtechniken

Grundsätzlich hilft Emotionelle Erste Hilfe bei:

  • Erschöpften Eltern von „Schreibabys“ (ich nenne das jetzt so, weil jeder weiß, was gemeint ist)
  • Entwicklungsbegleitung von Eltern mit Babys und/oder Kleinkindern bei Stillproblemen, Schlafproblemen, Autonomiephase („Trotzphase“)
  • Begleitung in der Schwangerschaft bei ambivalenten Gefühlen, Krankheiten, Ängsten usw.
  • Verarbeitung einer belastenden Erfahrung bei Schwangerschaft/Geburt
  • unerfüllter Kinderwunsch
  • uvm.

Kann EEH auch bei älteren Kindern helfen?

Ich war zunächst unsicher, ob ich auch in dieses Raster falle. Claire war zu Beginn der Therapie bereits 5 Jahre alt und damit eigentlich schon kein Kleinkind mehr.

Allerdings ging es bei der EEH in der ersten Linie um mich, nicht um sie.

Wie konnte ICH mit ihren Wutausbrüchen umgehen? Wie konnte ICH ruhig und gelassen bleiben? Wie konnte ICH es nicht zu einem Wutanfall bei mir kommen lassen?

Was Mütter dürfen und was nicht

Darum hat mich meine EEH-Therapeutin bei der Anfrage auch direkt animiert, es einfach zu versuchen. Ich habe ihr geschildert, dass ich das Gefühl habe mich emotional von Claire zu entfremden. Das können nicht einfach die Hormone sein, dachte ich mir.

Ich muss da was tun, und zwar JETZT! Natürlich war mir etwas mulmig zu Mute. Wie sollte ich über meine negativen Gefühle sprechen?

Eine Mutter DARF nicht negativ von ihrem Kind sprechen. Niemals. Eine Mutter MUSS ihr Kind lieben. IMMER. Etwas anderes wird nicht geduldet. Etwas anderes darf nicht sein. Darf sich nicht so anfühlen. Konnte ich also offen zu ihr sein?

Ich konnte. Meine EEH-Therapeutin hat mir ein gutes Gefühl vermittelt. Sicherheit. Geborgenheit. Ich konnte ehrlich zu ihr sein. Offen von meinen Gefühlen berichten. Und daran arbeiten. Wie das genau ablief, erzähle ich euch jetzt.

So lief die EEH-Therapie bei mir

Ich wurde in ihrer Praxis empfangen und durfte mich erstmal bequem mit einem Stillkissen auf den Boden kuscheln. Sie schob mir noch rechts und links Stillkissen unter die Arme, damit ich mich absolut fallen lassen konnte. Mit den Händen habe ich meinen Bauch (ich war ja schön rund, da schwanger) gestreichelt und dann ging es los. Ganz sachte sollte ich zunächst erzählen, was denn das Problem sei, warum ich hier bin.

Sie hat sich viel notiert, mich zu meinen Kindern und Alltag befragt und dann ging es ans Eingemachte. Die negativen Gefühle. Das Gefühl, Claire nicht so zu lieben, wie ich es sollte. Allein darüber zu sprechen tat unheimlich gut. Der ganze emotionale Ballast, der auf meinen Schultern lag, fiel von mir ab.

Einfach atmen…

Sie zeigte mir eine Atmenübung mit der ich lernte mich zu „spüren“ und zu erden. Schön in den Bauch hinein. Ich sollte einfach nur atmen, mich spüren und entspannen. Diese Übung konnte ich auch mit in den Alltag nehmen, da man dazu nicht unbedingt sitzen/liegen muss. Es reicht, wenn die Fußsohlen die Erde „spüren“.

Zu Hause habe ich direkt Post-Its verteilt, damit ich in Stress-Situationen erstmal atme

Ich sollte einfach sitzen, mir es so bequem wie möglich machen und spüren, wie mein Po auf dem Boden sitzt. Die Beine, Unterschenkel, Oberschenkel auf dem Boden aufliegen. Stück für Stück sollte ich den Körper spüren. Nach ein paar Atemzügen sollte ich schildern, wie ich mich gerade fühle. Was das Atmen mit meinem Körper macht. Tatsächlich änderte sich die Grundspannung, es stieg ein wohliges Gefühl auf und ging durch den ganzen Körper. Einzig, weil ich bewusst atmete!

EDIT: Was ich ganz vergessen hatte. Ich sollte zuvor an eine Stress-Situation mit meinen Kindern denken und das Gefühl beschreiben. Ich war innerlich ganz verspannt, hatte einen fetten Knoten im Hals, hatte einen Wutknubbel im Bauch. Sehr unschön.

Dann sollte ich mich an eine schöne Situation erinnern, daran festhalten und atmen. Dadurch sollte es mir gelingen die Entspannung durch das Atmen mit dem „Aufrufen“ der Situation im Kopf abzurufen. Wenn ich es oft genug üben würde. Das fand ich besonders schwierig, denn unter all dem Ärger war es wirklich schwierig die guten Seiten zu erkennen. Es gab sie, ganz bestimmt. Ich war nur unfähig zu sehen.

Die Polyvagal-Theorie

Meine EEH-Therapeutin hat mir dann auch die „Polyvagal-Theorie“ erklärt. Ich sollte lernen, den Stress der auf mich zukommt, frühzeitig zu erkennen und zu reagieren BEVOR es zu spät ist. Bevor ich explodiere also, damit ich mich herunter regulieren kann. Dabei geht es darum, dass der Körper quasi drei Phasen (Reaktionsmuster) erreichen kann.

Verantwortlich hierfür ist das vegetative Nervensystem (VNS), welches noch nach urzeitlichen Mustern arbeitet, in denen es um Leben und Tod ging. Es gibt da einige Fachwörter und Regionen im Gehirn – den Parasympathikus (Entpannungsnerv), die angesprochen werden, das ist mir hierfür aber irgendwie zu hoch. Ich versuche es jetzt ganz einfach mit dem Schaubild zu erklären (Achtung, das habe ich vereinfacht, es ist nicht wissenschaftlich korrekt dargestellt!):

Der Sympathikus wird aktiv

Phase 1: Alles easy. Ich bin entspannt, fühle mich wohl, kann geduldig auf meine Kinder eingehen, Wut begleiten, klar sehen und denken. Hier ist das Social-Engagement-System (SES) aktiv. Ich lasse mich durch nichts aus der Ruhe bringen.

Haben meine Kinder aber häufiger am Tag Wutanfälle, habe ich zusätzlichen Stress durch Arbeit, den Haushalt oder andere Faktoren komme ich in Phase 2. Ich bin angespannt. Meine Stresskurve schnellt nach oben. Ich reagiere gereizt, schnippisch, zickig, habe kaum Geduld. Der „Sympathikus“ wird aktiviert:

„Das Herz schlägt schneller, der Blutdruck steigt, die Atmung wird kurz und flach, der Körper ist bereit zum Kampf oder zur Flucht.“ (Herzratenvariabilität)

Bloß nicht in Phase 3!

Wenn nun die Spannung steigt und es keine Entspannung gibt, schaltet das vegetative Nervensystem in den „Notstrom“ um. Ab jetzt läuft alles auf Autopilot, der Körper befindet sich in einer  Art Schockstarre. Das Gehirn schaltet ab und es geht ums Überleben.

Häufig wird das Verhalten von Triggern ausgelöst. Aus dem Tierreich kennt man diese Verhalten auch. Ist das Tier in Lebensgefahr, kann es sich entweder Tot-Stellen oder angreifen. Genau dieselbe Mechanik greift hier auch.

Und leider geht mein Hirn in den Auto-Piloten und greift dann an. BUMM.

In Phase 3 werde ich also irre laut, brülle wie ein Orang-Utang oder sage gemeine Sachen. Uff. Geht gar nicht. Ziel ist es nun gar nicht in Phase 3 zu kommen! Perfekt wäre natürlich in Phase 1 zu verharren, das ist aber utopisch.

Wichtig ist aber, wenn ich in Phase 2 eintrete und die Kurve immer steiler auf die Phase 3 zugeht, den Cut zu machen, um die Kurve wieder abzuflachen (in der Corona Zeit habt ihr vom Kurven-Gelaber sicher die Nase voll, aber besser kann ich es nicht ausdrücken, sorry).

Einatmen, Ausatmen

Wie mache ich das nun? Genau! Mit Atmen! Wenn ich merke, dass ich angespannt werde, soll ich mich erstmal erden. Atmen, mich spüren. Und erst dann weiter machen. Das klingt total leicht, aber im Alltag ist es eine enorme Herausforderung! Erstmal den Zeitpunkt zu bestimmen, ehe es zu spät ist… Und dann noch die Geduld finden, erstmal zu Atmen… Erfolgreich zu atmen. Eine Sache der Übung.

Also hatte ich ein paar Sitzungen bei der Emotionellen Ersten Hilfe und habe immer wieder über Situationen gesprochen in denen ich Phase 3 erreicht habe und habe Impulse mitgenommen, sowas für die Zukunft zu umgehen.

Den vorletzten Termin hatte ich eine knappe Woche vor der Geburt. Danach war ich in eine Welt voller Flausch und Liebe getaucht. Doch dann, Dank Umzug, wachsenden Wutanfällen, Corona und Co… Ratet. Es wurde schlimmer. Ich hatte meine Emotionen erneut nicht im Griff.

Selbstfürsorge ist das A und O

Also habe ich vor ein paar Tagen eine erneute EEH-Sitzung gehabt. Und es tat soooo gut! Letztlich hat sie mir einfach nur zugehört, bei all der Last die mir auf der Seele liegt. Mir zugesprochen, immer und immer wieder. Mir gesagt, dass ich viel leiste. Mir vor Augen geführt, was ich als Mutter leiste. Als Ehefrau. Dass ich mir selbst Pausen einräumen muss. Dass ich für mich selbst sorgen muss. Und da hatte sie Recht. Selbstfürsorge war bisher „nicht so mein Ding“.

Zunächst hat sie mich wieder geerdet (es lief diesmal übrigens alles online ab), sie hat mich atmen lassen und dann flossen sie. Die Tränen. Erschöpfung, Erleichterung, Selbsthass, Verzweiflung… Irgendwie alles zusammen. Es war das erste Mal, dass ich wirklich dabei geweint habe, aber es tat auch gut.

EEH ist für alle da!

Tränen reinigen die Seele. Und so war es auch. Danach ging es mir besser. Der Blick war wieder klarer. Genau im richtigen Moment, denn es sollten wieder ein paar anstrengende Tage auf uns zukommen. Uff!

Wie ihr sicherlich schon bemerkt habt, geht es in meiner EEH-Therapie viel um Gefühle. Ich hatte sie meinem Mann auch bereits vorgeschlagen, denn – jetzt kommt´s – die EEH-Therapeutin betreut nicht nur Mütter oder so. Sie ist für alle da!

Ich habe ihr gesagt, dass mein Mann wohl Probleme haben könnte, über Gefühle zu sprechen. Aber sie meinte direkt, dass sie in diesem Fall einfach pragmatischer herantreten könnte. Sie kenne das von anderen Männern. Noch hat sich mein Mann nicht so recht überzeugen lassen, aber vielleicht fasst er sich auch mal ein Herz, um aktiv an seiner Wut zu arbeiten <3

Mein kleiner Wutkalender

Wut ist übrigens DAS Thema gerade hier. Nicht nur seitens Claire, auch Marie ist in der Autonomiephase angekommen und kann echt wütend und laut werden. Und auch ich werde gerade öfter mal laut. Darum habe ich mir auch einen Wutkalender angeschafft, um das mal zu visualisieren. Darüber berichte ich aber dann noch an anderer Stelle.

Was ich euch sagen will: Hadert ihr mit euren Gefühlen zu einem Kind, fühlt ihr euch überfordert, krabbelt ihr auf dem Zahnfleisch, sucht ihr Unterstüzung bei der Aufarbeitung von Schwangerschafts-/Geburtsproblemen – egal was – bei der emotionellen ersten Hilfe könnte euch geholfen werden.

Die EEH ist sehr vielfältig und in vielen Bereichen hilfreich. Wie bei allen Hilfsangeboten muss sie aber zum Menschen passen. Probiert es aus und ihr merkt recht schnell, ob es helfen kann oder nicht. Bei mir wurde ein Nerv getroffen. Das liegt bestimmt auch daran, dass ich mich so gut aufgehoben gefühlt habe. Ich hatte nicht das Gefühl, dass ich mich für irgendetwas schämen müsste <3

Gefühle sind einfach Gefühle. Sie sind da. Dafür entscheiden wir uns nicht. Wir entscheiden uns aber, wie wir damit umgehen.

EDIT:  Wer weitere Informationen zur Emotionellen Ersten Hilfe möchte, kann Vorträge vom EEH-Begründer Thomas Harms auf Youtube finden. Außerdem gibt es ein wunderbares Video von Cornelia Fröhlich dazu. Schaut gern mal rein.

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