Mein inneres Kind dreht durch

Aktuell gehen wir hier alle ein wenig auf dem Zahnfleisch. Claire hat Wutanfälle aus der Hölle und wir Nerven wie Zuckerfäden. Eine gefährliche Mischung… Wir gehen alle regelmäßig hoch und der Familienalltag macht gerade nicht so viel Spaß. Abends sind wir froh, wenn die Kinder endlich schlafen und wir durchatmen können. Uff.

Alle wollen zur Mama

Marie schläft aber meist erst spät ein, Claire auch. Wir haben Zero MeTime. Dabei haben wir schon feste Abende vereinbart, an denen wir uns mit der Betreuung abwechseln. Allerdings hilft das wenig, solang Marie abends noch gestillt werden möchte und nur in meiner Nähe schläft.

Letztlich hängt es da ja doch wieder an mir. Aktuell habe ich das Gefühl der Drehpunkt der Familie zu sein, weil beide Kinder auf mich fixiert sind. Und es schlaucht total. Ist das der Grund warum ich häufiger hoch gehe? Schlafmangel? Stress mit dem Ehemann? Überfordert mit der Erziehung?  Oder, werde ich derzeit zu sehr getriggert? Ist bedürfnisorientiert Erziehen einfach zu hardcore für mich?

Mir wurde erst heute der Ratschlag erteilt mehr auf mein Bauchgefühl zu hören. Mir keinen Stil zu sehr zu Herzen zu nehmen, einfach zu machen. Nein! Das wäre das Schlimmste, was ich tun könnte!

Ich hab es getan: Zimmerarrest

Es heißt ja immer Kinder holen die besten und schlechtesten Seiten aus einem Menschen heraus. Bei mir sind aktuell vor allem die schlechten Seiten fällig. Ich lasse mich zu blöden Handlungen verleiten, um nicht völlig zu explodieren. Es gab Zimmerarrest. Dreimal bisher. Eigentlich wollte ich diese Form der Bestrafung nie anwenden. Eigentlich wollte ich nie bestrafen. Aber jetzt fange ich damit an, da ich nicht mehr kann. Ich bin ausgebrannt. Fertig vom Kampf mit meinem Mann, mit meiner Tochter und vor allem mit mir selbst.

Der Knackpunkt bei Claires Wutausbrüchen ist häufig meine Reaktion. Wie lange schaffe ich es auszuhalten und ruhig zu bleiben? Früher konnte ich mich eine Stunde lang mit ihrer Wut auseinandersetzen. Ihren Attacken aus dem Weg gehen, die Wut begleiten. Jetzt geht es nicht mehr. Schon allein, weil Marie mit dabei ist. Sie weint bei Claires Wutattacken oder wird auch mal (aus Versehen?) Opfer davon. Meine Geduld reicht nicht mehr ewig. Ich explodiere mit. Doch damit wird es noch viel schlimmer.

Ich möchte manchmal eine Ohrfeige verteilen

Ich habe mich gefragt, warum? Warum werde ich jetzt schneller wütend? Warum kann ich nicht mehr aushalten? Warum würde ich dem Kind am liebsten manchmal eine Klatschen? Ja, ich habe in der Tat manchmal den Impuls Claire eine Ohrfeige zu geben. Oder den Klaps auf den Po. Es ist natürlich absolut nicht in Ordnung einem Kind Gewalt anzutun. Auch kein „kleiner Klaps“ auf den Po oder eine Ohrfeige. Nein. Nada! Dennoch hab ich eine solche Wut im Bauch, dass er danach schreit, ich möge dem „verzogenen Gör“ doch bitte Mal eine Ohrfeige verpassen. Das kommt aus dem Inneren heraus. Es ist ein Impuls, der intuitiv kommt. Warum?

Ich lese oft, dass es Eltern gibt, die das Schlagen verurteilen. Ich bin da ganz vorne mit dabei, das mache ich auch! Gewalt geht einfach nicht! Es gibt auch Eltern, die behaupten, sie würden nie im Entferntesten daran denken ihr Kind zu schlagen und sich vorher lieber die Hand abhaken. Ich bewundere sie! Da gehöre ich leider nicht dazu. Manchmal, da denke ich dran. Und dann frage ich mich: Was stimmt nicht mit mir? Warum haben andere Eltern diesen Impuls nicht und ich schon?

Prügel und seelische Gewalt

Ich bin als Kind geschlagen worden. Mit der Hand, dem Kochlöffel, dem Gürtel, dem Schuh. Ich bin auf dem Boden liegend getreten worden. Ich weiß wie unglaublich schrecklich es ist, geschlagen zu werden. Es ist eine Erfahrung, die mein Kind nicht machen soll. Und dennoch, dennoch kommt dieser Impuls in mir hoch. Was soll das?

Liegt es daran, dass ich es nicht anders kenne? Dass ich ganz anders aufgewachsen bin, als ich selbst erziehe? Hat sich das so sehr in mir verankert, dass ich den gleichen Weg gehen möchte, wie meine Mutter?

Nein. Ich will das nicht. Ich will nicht wütend werden, ich will nicht schlagen. ICH nicht. Aber mein inneres Kind.

Mein inneres Kind wehrt sich

Mein inneres Kind ist eine Ansammlung aus Gefühlen, Erinnerungen und Situationen in der Kindheit. Es ist ein Teil von mir, ein Fragment der Vergangenheit, welches mir noch inne wohnt. Eine Vergangenheit die ich nicht abschütteln kann, die mich noch immer bestimmt, die mein Handeln bestimmt.

Mein inneres, verletztes Kind tritt häufiger zum Vorschein und beginnt sich zu wehren. Weil es sich damals nicht wehren konnte. Die kleine Pia wurde früher oft geschlagen, angebrüllt und für alles mögliche verantwortlich gemacht und beleidigt: „Wegen euch ist mir der Appetit vergangen!“, „Du hast einen fetten Arsch!“.

Als Kind wurde ich für die Fehler meiner Mutter zur Verantwortung gezogen. Sie hat mehr Last auf meine Schultern abgelegt, als ich tragen konnte. Brach ich zusammen, hielt sie es mir vor. Ich habe viel geweint als Kind. Und ich war zornig. Sehr sehr zornig. Auf meine Mutter, auf mich.

Gewalt, Missbrauch, Mobbing

Ich hatte das Gefühl nichts wert zu sein, nichts zu können. Leider kann ich mich auch nicht an Momente erinnern, in denen meine Mutter mir sagte, dass sie mich liebt. Oder an eine Umarmung. Ich glaube das hat sie gar nicht. Sie hat es versucht durch Taten zu signalisieren, aber ich war noch zu jung, um zu verstehen, was sie für uns tat. Stattdessen fühlte ich mich oft ungeliebt. Nicht gewollt.

Das Gefühl wurde verstärkt, da ich in der Schule gemobbt wurde. Und ich wurde mehrmals missbraucht. Ich erfuhr viel Gewalt. So viel Gewalt. Und ich konnte nichts dagegen tun. Ich konnte mich nicht wehren.

Mein inneres Ich ist so so wütend. All die Jahre kam es immer wieder hervor. Als Selbstzweifel, als Selbsthass. Angst vor dem Versagen und Suizidgedanken haben mich lange begleitet. Dann habe ich mich verliebt, ich wurde geliebt. Aktiv, aufrecht. Mein inneres Kind begann zu verstummen.

Neuer Mut beschwichtigt die Wut

Ich hatte neuen Mut gefasst, habe mich weiterentwickelt. Natürlich gab es immer wieder Situationen in denen ich falsch reagiert habe, jähzornig wurde. Es hielt sich aber in Grenzen. Mein inneres Kind fiel in einen Schlaf und trat hin und wieder im Traume um sich. Bis jetzt. Denn die schrille Stimme meiner Großen schien es aufgeweckt zu haben. Mein inneres Kind ist wach und wehrt sich plötzlich.

Es will nicht angeschrien werden, es will nicht geschlagen werden, es will nicht mehr verantwortlich gemacht werden. Das Problem ist aber, genau das macht Claire. Sie schlägt, sie tritt, sie schimpft, sie schreit, sie hält mich für die fieseste Mama der Welt. Das triggert mich. Das ruft mein inneres Kind auf die Bühne, dass sich heftig zu wehren beginnt.

Ich wechsel zu Autopilot

Wenn mein inneres Kind loslegt verliere ich oft die Kontrolle. Es ist, also stehe ich über mir und sehe mir dabei zu, wie ich handle, obwohl ich es nicht so will. Ich begleite Situationen im Co-Pilotmodus, weiß im Kopf, wie man sie alternativ anpacken könnte und doch verfalle ich in den Autopilot und treffe falsche Entscheidungen:

Ich werde laut, obwohl ich es nicht will. Ich nutze „Wenn…dann“-Sätze. Manchmal zähle ich sogar an. Ich sage wirklich fiese Dinge wie „Du nervst mich!““Du kotzt mich an!“. Ja und, wenn es richtig mies läuft, dann packe ich Claire grob an. Dann gibt es Zimmerarrest für Claire. Ich mache wütend das Türschutzgitter zu und lasse sie toben und wüten, bis sie sich beruhigt hat. Und ich mich. Denn sonst könnte es passieren, dass sie eine Ohrfeige bekommt. Das möchte ich verhindern.

Nach dem Sturm folgt die Reue

Wenn die Situation vorbei ist und mein Hirn wieder das Kommando übernimmt, fühle ich mich schrecklich. Ich schäme mich für meine Handlung und versuche Claire zu erklären, was los war, warum ich so gehandelt habe. Ich bitte um Entschuldigung, sage ihr, dass es mir Leid tut und, dass es falsch war. Und dann frage ich mich, warum ich die Kontrolle verloren habe und wie ich es verhindern kann.

Ich denke, der Weg führt über mein inneres Kind. Meine Vergangenheit bestimmt noch immer, wie ich denke und fühle und damit wie ich handle. Das darf nicht mehr sein. Ich muss endlich lernen damit abzuschließen. Aber es fällt mir schwer. Ich kann den Menschen der Vergangenheit nicht verzeihen.

Mein inneres Kind kann das nicht. Es ist so wütend, weil es ungerecht behandelt worden ist.Weil es geliebt werden wollte. Weil es noch immer geliebt werden will.

Ablehnung und Verzweiflung

Wenn Claire einen Wutanfall hat, spüre ich zwei Dinge: Ablehnung und Verzweiflung. Ich möchte gern an die Verzweiflung anknüpfen und ihr zeigen, dass ich sie verstehe. Stattdessen reagiert mein inneres Kind auf die Ablehnung. Geht in Abwehrhaltung und wehrt sich mit Händen und Füßen.

Mein Verständnis ist schnell aufgebraucht. Meine Geduld auch. Die Kraft, die ich benötige, um das innere Kind zu besänftigen, bleibt aus. Ich versuche mein großes Mädchen zu beruhigen und bin selbst doch ganz und gar durch den Wind. Das kann nicht klappen…

Die eigene Wut bändigen, aber wie?

Wenn ich möchte, dass es hier wieder rund läuft, muss ich daran arbeiten mich selbst in den Griff zu bekommen. Den Kampf im Inneren ausfechten, damit ich ihn nicht weiter nach draußen trage. Aber ich weiß nicht wie. Ich weiß nur: Meine Große braucht mich, mein Baby braucht mich und ich brauche genug Energie um beiden Kindern gerecht zu werden.

Noch bin ich auf der Suche nach einem Weg, der mich nicht völlig ausbrennt und ich hoffe, dass ich bald einen Weg finden werde, um alle Bedürfnisse jonglieren zu können.

Denn ich möchte, dass Claires inneres Kind niemals so wütend wird und so sehr von der Welt enttäuscht ist, wie meines.

Das wird Arbeit. Harte Arbeit. An mir selbst. Doch erst, wenn ich mir selbst nicht mehr im Weg stehe, schaffe ich es vielleicht, den bedürfnisorientierten Weg zu beschreiten.

Anmerkung: Was ist das innere Kind?

Es bezeichnet und symbolisiert die im Gehirn gespeicherten Gefühle, Erinnerungen und Erfahrungen aus der eigenen Kindheit. Hierzu gehört das ganze Spektrum intensiver Gefühle wie unbändige Freude, abgrundtiefer Schmerz, Glück und Traurigkeit, Intuition und Neugierde, Gefühle von Verlassenheit, Angst oder Wut. Das Innere Kind umfasst alles innerhalb des Bereiches von Sein, Fühlen und Erleben, welches speziellen Gehirnarealen zugeordnet wird […]