So viel Freude, so viel Wut von Nora Imlau

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Nach den ersten Seiten „So viel Freude, so viel Wut“ [Amazon Partnerlink | Werbung] musste ich das Buch kurz weglegen und durchatmen. Tränen trocknen, nochmal durchatmen und dann lächeln. ENDLICH fühlte ich mich verstanden. Endlich war ich nicht mehr allein mit meinen Sorgen, Nöten, Selbstzweifel. Endlich bin ich angekommen. Innerlich. Und endlich hatte ich das Gefühl meine Tochter wirklich so zu sehen, wie sie wirklich ist: Voll normal. Nur anders halt. Sie ist gefühlsstark.

Keine Modekrankheit, keine Tyrannenaufzucht

Gefühlsstärke ist keine Diagnose, keine Modekrankheit, kein neues Buzzword, um Kinder in eine Schulbalde zu stecken. Es ist ein Wort, um Kinder zu beschreiben, die zwar anders sind, aber irgendwie auch nicht. Sie sind nicht verzogen oder werden aufgrund der (nicht) Errziehung zu kleinen Tyrannen.

Sie erleben ihre Emotionen einfach nur auf einem anderen Weg, sehr viel stärker, sehr viel intensiver. Ein Leben mit ihnen gleicht einer emotionalen Achterbahnfahrt. In einem Moment himmelhochjauchzend, im nächsten zu Tode betrübt. Das Leben mit ihnen ist fordernd, anstrengend, intensiv. Wie sehr weiß ich erst, seit ich ein zweites Kind habe. Ein Sonnenscheinbaby, dass „einfach mitläuft“. Aber was heißt gefühlsstark eigentlich?

„Sie tun nicht nur so, als sei irgendeine Kleinigkeit eine Katastrophe, sie haben eine Amygdala, die auf jede Kleinigkeit reagiert wie auf eine Katastrophe.“

Überempfindliches Gehirn

Es heißt schlichtweg, dass sie alle Eindrücke intensiver wahrnehmen. Das Hirnareal (Amygdala), welches für Wut und Angst zuständig ist, reagiert viel schneller, als bei anderen Kindern. Dadurch, dass es so sensibel ist, wird das Kind schneller in den „Kampf-oder-Flucht“-Modus versetzt. Sobald man in diesem Modus gefangen ist, dreht man ein kleines bisschen durch und ist für sachliche Diskussionen nicht mehr zugänglich. Anders: Man erlebt einen Wutanfall/Trotzanfall.

Neben der Überempfindlichkeit dieses Hirnareals, kommt ein weiteres Problem hinzu. Normalerweise dient der Vagusnerv in einem solchen Moment zur Selbstberuhigung. Das klappt bei gefühlsstarken Kindern nicht, sie brauchen Regulierung von außen. Also unsere Hilfe als Eltern (oder Erzieher)!

„Wir sind glücklich und dankbar für diese Kinder. Aber wir sind auch unfassbar erschöpft. Und wir denken immer wieder: Wer es nicht selbst erlebt hat, der kann sich schlicht nicht vorstellen, was es bedeutet, so ein Kind zu haben.“

Beispiel: Der Zahnarztbesuch

Wer nicht gefühlsstark ist, kann das vielleicht nicht nachfühlen. Daher versuche ich es mit einem alltäglichen Beispiel:  Mein Mann war kürzlich beim Zahnarzt. Er hatte Zahnschmerzen. Der Arzt hat ein Wattestäbchen mit Eisspray besprüht, um die Schmerzenpfindlichkeit zu prüfen. Beim Pressen an einen „normalen“ Zahn, hat er eine unangenehme Kälte gespürt. Es war aber erträglich. Doch als der Arzt damit auch nur in die Nähe des empfindlichen Zahnes kam, ist er vor Schmerzen fast vom Stuhl gesprungen. Holy Shit!!!

Der Zahn hat durch die Entzündung alles sehr viel intensiver wahrgenommen und hat sich ganz schön zur Wehr gesetzt. Damit der Zahn nicht mehr so schmerzemfpindlich ist, bekam mein Mann nun eine Salbe, die den Zahn schützt. Eine Regulierung von außen 😉

Nichts und niemand ist hier schuld!

So ist es auch mit gefühlsstarken Kindern. Sie nehmen Emotionen sehr viel intensiver wahr, als andere Menschen. Wo andere Menschen Informationen filtern und zuordnen, prasselt bei gefühlsstarken Kindern alles unkoodiniert ein. Die bestimmte Region im Gehirn sorgt dafür, dass das Kind die Gefühle sehr viel heftiger erlebt. Das hat nichts mit falscher Erziehung zu tun, nichts mit Inkonsequenz. Es liegt nicht an der Art, wie das Baby geboren wurde. Es ist egal, ob es gestillt wurde oder direkt zur Flasche gegriffen wurde. Es liegt einfach in der Natur des Kindes die Gefühle intensiver wahrzunehmen und eben auch auszuleben.

„Denn auch wenn wir Eltern hierzulande oft den Eindruck vermittelt bekommen: Ihr seid nicht schuld!“

Endlich verstehe ich

In ihrem Buch zeigt Nora Imlau auf, woran wir gefühlsstarke Kinder erkennen können, wie die Emotionsausbrüche einzuordnen sind und wie man damit umgehen kann. Als Claire ein Baby war, hatte ich den Verdacht, sie habe die 3-Monats-Koliken. Ich hatte befürchtet, sie habe den Kaiserschnitt als Trauma erlebt, verarbeite diesen und ist deshalb so „anstrengend“.  Ich glaubte eine schlechte Mutter zu sein, versagt zu haben, auf allen Ebenen. Demnach haben wir verschiedene Methoden und Techniken ausprobiert, um die Situation zu verbessern – mit mangelndem Erfolg.

Heute weiß ich: Sie war eigentlich total normal. Gefühlsstarke Babys suchen sehr viel mehr Nähe – darum konnte ich Claire keine Sekunde ablegen. Nicht in den Stubenwagen, nicht auf den Boden, nicht zum Schlafen ins Bett. Von wegen verwöhnt! Gefühlsstarke Kinder brauchen oft nicht so viel Schlaf, wie andere Babys – darum war Claire die halbe Nacht wach. Diese Babys haben ein sehr viel größeres Problem damit sämtlich Informationen zu filtern und zu verarbeiten – darum schrie unsere Große sich die neuen Erkenntnisse Abend für Abend, Stunde um Stunde aus dem Hals.

Je älter desto heftiger

Auch später, als sie älter wurde, hatten mir mit ihren Gefühlsausbrüchen zu kämpfen. Die falsche Tasse, ein abgebrochener Keks – und dann stand und das Armageddon ins Haus. Die Wut steigerte sich von Zeit zu Zeit; auf beiden Seiten. Denn auch wir wurden wütender, da unsere Versuche sie zu beruhigen ins Nichts verliefen. Gefühlt. Es war frustrierend und kräftezehrend.

Und auch ich bin gefühlsstark, wie ich jetzt weiß. Wieder und wieder SIND WIR explodiert und ich habe nicht verstanden warum. Ich habe ihre Emotionen mit aller Macht abbekommen und wusste nicht, warum sie aus jedem „Mist ein Drama“ gemacht hat. Bis ich den einen entscheidenden Satz gelesen habe: Und mit dieser neuen Perspektive, änderte sich alles.

„Sie MACHT kein Drama. Sie ERLEBT ein Drama.“

Kinder machen das nicht mit Absicht

Nora hat gezeigt, dass Claire nicht – und auch kein anderes gefühlsstarkes Kind – mit Absicht zur Furie wird. Kinder in Claires Alter können ihre Emotionen gar nicht kontrollieren – manch Erwachsener kann es ja nicht einmal. Wenn die Emotionen sie überwältigen, reißen sie sie mit wie eine unerbittliche Welle auf hoher See. Wild, ungestüm, und sie brechen einfach alles, was sich ihnen in den Weg stellt.

Selbst, wenn Claire dagegen ankämpft – was sie manchmal auch merklich tut – sie hat doch keine Chance und geht unter. Denn es entspricht einfach nicht ihrem naturell sich gewissen Gefühlen oder Neigungen unterzuordnen. Es liegt an uns Eltern ihr Methoden und Wege aufzuzeigen, mit ihren Emotionen umzugehen. Wir müssen sie zulassen und lenken, statt verbieten und unterdrücken. Denn damit würde ich auch einfach das Wesen meines Kindes unterdrücken, statt anzunehmen und zu lieben.

Claire freut sich

Bei Versagen von Schuld geplagt

Besonders berührt hat mich in diesem Zusammenhang die Geschichte von Joachim. Er war ein „Zappelphillip“, konnte nicht still sitzen und wurde dafür oft von seinen Eltern bestraft. Er WOLLTE unbedingt gehorchen und es seinen Eltern recht machen. Im Buch erzählt er von dem innerlichen Druck der sich aufgebaut hatte, da die Erwartungshaltung der Eltern mit seinem Wesen kollidierte:

„[…] und weiß noch, wie furchtbar ungerecht sich das anfühlte, weil ich wirklich versucht hatte zu gehorchen. Als würde ich dafür bestraft werden, dass ich einfach ich bin. […]“

Erwachsene haben nicht immer Recht

Kinder wollen kooperieren. Sie möchten es uns Eltern „recht machen“, immer. Oft kooperieren sie, aber wir sehen es gar nicht, weil unsere Erwartungshaltung eine ganz andere ist. Dadurch rufen wir Handlungen und Gefühle in den Kindern vor, die sich für sie eigentlich falsch anfühlen, aber uns Zuliebe machen sie es dann doch…

„Wir müssen das alles nicht verstehen. Wir müssen akzeptieren. Wir haben unsere Art die Welt zu sehen und das Kind hat seine. Keine ist besser oder schlechter als die andere. Keine ist falsch.“

Die schönen Seiten gefühlsstarker Kinder

Mit gefühlsstarken Kindern zu leben hat natürlich nicht nur die Schattenseiten. Denn ebenso heftig, wie sie Wut und Trauer erleben, erleben sie Freude, Glück, Fröhlichkeit. Claire hat ein bezauberndes Wesen, kann jeden um den Finger wickeln, weil sie offen und herzlich ist. Sie geht ohne Scheu auf Fremde Menschen zu, tritt in einen Dialog und ist dabei erstaunlich clever.

Mein Mann und ich können in puncto Smalltalk und Kommunikationsfähikeit echt noch was von ihr lernen. Sie zaubert uns wundervolle Liebesbekundungen und fällt uns aus dem Nichts heraus um den Hals.

Grenzen müssen dennoch gewahrt werden

Es sind aber die Wutausbrüche, die uns immer wieder das Familienleben erschweren und zu Frust führt. Besonders „schlimm“ wurde es hier mit der Entthronung unserer Prinzessin. Seit Marie da ist, sind die Achterbahnfahrten wilder geworden, länger, gefährlicher. Nicht nur gegen sich, auch gegen Marie. Ihr Frust führt dazu, dass sie auch mal andere Kinder anschreit, nach ihnen haut, wenn diese sie ärgern.

Das geht natürlich nicht und wir müssen es gemeinsam schaffen, einen „sozialverträglichen“ Menschen aus ihr zu machen. Der die Grenzen anderer wahrt. Dazu braucht es aber viel Fingerspitzengefühl, wenn man das eigene Kind nicht dabei brechen möchte. Aber auch hier gibt Nora in „So viel Freude, so viel Wut“ Hilfestellung. Mit ihren Erklärungen hat sie mein Verständnis für Claire und ihre „Anomalien“ um einiges verstärkt. Sie hat mein Herz erreicht und meine Perspektive Claire zu sehen verändert.

Es ist alles anders

Nora hat es geschafft Verständnis, Akzeptanz und Wohlwollen in mein Herz zu pflanzen, wo vorher nur Verständnislosigkeit, Frustration und Wut war. Ich dachte auch, das Kind tanzt mir auf der Nase herum. Ich dachte, sie tut mir absichtlich weh. Ich dachte, sie übertreibt. Aber so ist es einfach nicht. Das zu wissen tut gut und erleichtert den Alltag um einiges.

Nora erklärt die gefühlsstarken Kinder einerseits einfühlsam, verständnisvoll und liebevoll, andererseits aber wissenschaftlich fundiert und rational begründet. Diese Mischung aus Herz und Verstand finde ich sehr elegant und bewundernswert. Sie versteht es, Informationen wortgewandt auf den Punkt zu bringen, sich in den Leser einzufühlen und unsere Gefühle, die wir selbst nicht wirklich benennen können, zum Ausdruck zu bringen. Es ist als würde sie manchmal in unseren Kopf schauen und freundlich winken. Ich kann „So viel Freude, so viel Wut“ jedem Elternteil empfehlen, der sich in sein Emotionsbündel hineinversetzen möchte, um gemeinsame Lösungsstrategien zu suchen.

Was „So viel Freude, so viel Wut“ bietet

Neben dem Wissen um und über gefühlsstarke Kinder, den „Erkennungsmerkmalen“ und wissenschaftlichen Erklärungen, bietet „So viel Freude, so viel Wut“ aber noch mehr. Nora stellt etliche berühmte Persönlichkeiten vor, die sie als gefühlsstarke Menschen vermutet. Claire in einer Reihe mit Stev Jobs, Albert Schweizer und Pink?

Ja, das kann ich mir gut vorstellen, sehr gut sogar. Sie hat Esprit, sie hat Charme, sie ist neugierig, clever und hat genug Power, um zu erreichen, was sie will. Ich glaube, wenn wir sie fördern und nicht brechen, wird sie die Welt mitreißen und ein Stück weit verändern können.

Der Brief, der ans Herz geht

Ebenfalls enthalten ist beispielsweise ein kleiner Guide, um gefühlsstarken Kindern die Ankunft in der Kita zu erleichtern. Als besonderes Highlight enthält das Buch eine Briefvorlage, die einfach alles Wichtige nochmal zusammenfasst, um Verwandten, Freunden und Pädagogen komprimiert klar zu machen, dass das Kind gut ist wie es ist und so angenommen werden sollte. Beim Lesen musste ich sehr weinen, weil er einfach alles aufzeigt, was das Problem – durch die Gesellschaft – ist:

„[…] unser Kind ist nicht außer Rand und Band, weil wir ihm alles durchgehen lassen […]. Die Kinder sind besonders offen für Sinneseindrücke und können sich schlecht vor Reizüberflutung schützen. […] Jede Form von zusätzlichem Stress , insbesondere angedrohte Konsequenzen oder Strafen wären dabei nur kontraproduktiv …“

Für wen ist das Buch geeignet?

Dieses Buch ist absolut wertvoll für Eltern gefühlsstarker Kinder, die sich allein und überfordert fühlen. Es macht Mut, es tut dem Herzen gut. Das Buch gehört einfach in JEDE Kita, da sich gefühlsstarke Kinder ganz sicher in einer jeden Einrichtung befinden und oftmals nicht wahrgenommen oder gar unterdrückt werden.

Jeder Erzieher, der den empathischen Umgang mit Kindern wertschätzt, sollte dieses Buch gelesen haben, um mit dem Abstempeln aufzuhören und dem Annehmen beginnen zu können.

Ich finde dieses Buch ist nicht nur einfach ein Buch. Es ist eine Bibel. Eine Bibel für all jene, die nicht weiter wissen. Die mit ihren Latein am Ende sind ihre Kinder dennoch nicht aufgeben möchten.

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So viel Freude so viel Wut