1.30 Uhr – Ich stehe vor dem Kühlschrank, hole die Sahne heraus und sprühe mir den Mund damit voll. „Mhhh… das tut gut“. Gleich nochmal! Genüßlich lecke ich meine Lippen ab, stelle die Sahne zufrieden in den Kühlschrank zurück und mache mich auf dem Weg zur Couch. Schon auf den wenigen Metern fällt das Glücksgefühl wieder von mir ab. Dieser Tag hat mich all meine Kraft gekostet. Meine Nerven. Meinen Stolz. Ich schlucke die Tränen herunter und lege mich zu Marie, die bereits friedlich auf der Couch schläft. Noch ehe mein Kopf tief im Kissen versunken ist, falle ich in einen tiefen Schlaf. Erschöpft.

Was war heute los? Ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Ich habe eine Vermutung. Eine Vermutung, die mir das Herz schwer werden lässt. Claire steckt in der Entthronung und wir schaffen es nicht ihre Emotionen adäquat abzufangen. Heute war einfach alles Mist. Ein kleiner Blick zurück:

Die Frustration steigt

9.30 Uhr: Marie wacht auf und fordert ihr Frühstück ein. Ich schleiche mit ihr und Claire aus dem Schlafzimmer, um meinen Mann nicht zu wecken. Er war bis 6 Uhr wach und hatte Marie in den Schlaf geschaukelt. Die Mädels platziere ich nach dem Füttern kurz auf der Couch – ja Claire darf Kika schauen – um mich fertig zu machen und die Wohnung auf Vordermann zu bringen. Dann setze ich mich dazu – bis hierhin passt noch alles. Mein Mann wacht gegen 12 auf, also bereite ich das Frühstück vor. Und dann dreht sich die Welt um 180 Grad.

Ich bitte Claire mir kurz beim Eindecken zu helfen – macht sie nicht. Ich bitte sie, sich nun an den Tisch zu setzen, damit wir essen können – macht sie nicht. Ich bitte sie dabei nicht nur einmal, sondern mehrere Male. Stelle sicher, dass der Augenkontakt gegeben ist, dass sie mich hört. Aber sie will nicht hören. Nicht aktiv jedenfalls. Ich bin verärgert, aber versuche es nicht zu zeigen. Stattdessen mache ich entweder etwas selbst oder versuche zu ihr durchzudringen. Beides ist nicht befriedigend und erhöht den innerlichen Frust.

Wutanfall auf Wutanfall

Dann bitte ich sie, sich anzuziehen. Ein Kampf beginnt. Dieses Teil will sie nicht, das auch nicht. Egal, was ich ihr anbiete, sie will es nicht. Selber aussuchen will sie aber auch nicht. Herrlich! Ich stehe vor dem Kleiderschrank und mache mich zum Affen – Mama lässt es ja mit sich machen. Gut, wenn sie sich nicht anziehen möchte (hier ist es etwas kälter), kann sie den Tag leider nur auf der Couch unter einer Decke verbringen. Und dann rollen sie an – die Wutmonster. Ich versuche die Situationen mit Verständnis zu klären, hinterfrage ihre Wünsche, biete Alternativen an, aber es funktioniert alles nichts. Heute da kämpfen wir mit einem Wutmonster nach dem anderen: Falsches Glas, falsche Hose, Haarsträhne stört, ein Pups sitzt quer, ich gebe ihr etwas im falschen Winkel, ich existiere!…

Es sind die kleinsten Dinge, die sie explodieren lassen. Jeden Wutanfall – kommt er mir noch so bescheuert vor – versuche ich abzufangen. Auszuhalten. Ich biete meine Nähe an und warte ab, bis sie zu mir kommt und sich in meinen Armen auweint. Jedes Mal. Wenn sie nach mir schlägt, gehe ich einen Schritt zurück, bleibe aber da. Wenn sie Gegenstände kaputt machen will, halte ich sie auf. Den ganzen Tag, immer und immer wieder.

Der Puffer wird immer kleiner

Da ist plötzlich so viel Wut, ich verstehe es nicht. Irgendwann kommt sie auch bei ihrem Vater an, der wird sehr laut. Sie fängt ebenfalls an zu schreien und dann weint sie. Ich tröste sie – erneut. Laut werden ist nicht schön, aber ich verstehe es, dass sich manche Wutteufel nicht bändigen lassen. Neben all den unerklärlichen Wutmonstern, gibt es auch noch die Standard-Ausbrüche: Mama hat NEIN gesagt. Ich habe mal erzählt, dass wir versuchen ein Nein so oft es geht zu verhindern, aber manchmal, da muss es raus. Nein zu Mamas Labello – sie hat schon 2 von mir bekommen und beide angefressen. Dieser gehört allein mir! Nein zum Herumlaufen in Unterhose – es ist kalt und seit Tagen begleitet sie ein bellend-schleimiger Husten. Nein zum Gummibärchen – es gibt in 5 Minuten essen, sie darf gern danach welche haben. Und andere Leckereien.

Auch diese Wutattacken halte ich heute aus – irgendwie. Dann wirft sie beim Tanzen mein Geburtstagsgeschenk herunter, es zerbricht. Auch da halte ich mich zurück, werde nicht laut und sage ihr ruhig, dass ich das nicht so gut fand. Innerlich koche ich, doch ich unterdrücke diese Wut. Ich sperre meine Gefühle ein. Versuche abzukühlen und die Emotionen nicht nach außen zu tragen.

Und dann wird die Badtür verprügelt

Das funktioniert heute. Heute schaffe ich es den ganzen Tag zu trösten, zu unterdrücken, inne zu halten. Aber dann – beim Zähneputzen – geht es nicht mehr. Ich habe ihr die Zahnbürste falsch gegeben. Sie explodiert und ich auch. Ich gehe zum Badtürrahmen und knalle heftig mit meiner Hand dagegen. Ich entlade mich mehrmals und verprügel unsere Badtür. Die gestaute Wut des Tages muss die arme Tür aushalten. Und dann? Es geht mir besser.

„Warum hast du das gemacht?“, fragt Claire. „Weil ich wütend auf dich bin. Ich finde dein Verhalten heute einfach nicht in Ordnung! Ich verstehe es nicht und ich weiß nicht, was ich besser machen kann…“

Als wir wie immer im Bett liegen und kuscheln, versuche ich nochmal mit ihr zu reden. Versuche herauszufinden, wo all ihre Wut herkommt. Ob es wegen Marie ist? Ob wir zu wenig Zeit haben? Sie blockt ab. All meine Versuche Kontakt aufzunehmen blockt sie ab. Ich verzweifle und gebe es auf. Wir hören ein Hörspiel und ich wünsche ihr eine gute Nacht, drücke sie, gebe ihr einen Kuss und sage, dass ich sie liebe. Im Flur schicke ich ein Stoßgebet zum Himmel, dass morgen wieder Kita ist. Ich habe nicht die Kraft für einen weiteren solchen Tag. Nicht in Folge, vielleicht nicht einmal mehr diese Woche. Vielleicht nie mehr.

Und dann, dann möchte sich mein Mann wenig später ins Bett legen und alles ist nass. Sie hat im Schlaf die Blase entleert und es nicht gemerkt. Ein Warnzeichen, denn sie ist schon über ein  Jahr trocken. Mein Mann ist stinksauer und dann muss ich auch noch seine Wut kompensieren und abfangen. Versuche zu erklären, dass es nicht ihre Schuld ist. Dass sie gestresst ist und wir versuchen müssen, sie da herauszuholen. Dann ziehe ich alles ab und befördere es in die Wäsche. Nachts um halb eins. Ich versuche Marie zu beruhigen, die nun auch wieder wach ist, reinige wenig später noch den Matrazen Topper. Und bin K.O. Vom vielen Trösten, vom Wut abfangen.  Aber wer holt mich heraus? Aus der Verzweiflung? Wer holt meine Wut ab?

Fragen über Fragen und Selbstzweifel

Es macht mich traurig, dass wir Claires Wut nicht richtig abfangen können. Vielmehr noch, dass wir es nicht schaffen, ihr genug Zeit zu schenken. Wir versuchen sie einzubinden, oft möchte sie das aber nicht. Es gibt Exklusivzeit, es gibt gemeinsame Zeit. Aber es ist zu wenig. Und ich frage mich, ob meine Kraft auf Dauer ausreichen wird ihre, Maries und meine Bedürfnisse zufriedenstellend zu erfüllen. Ob ich es schaffe, weiterhin der Wutpuffer zu sein. Werde ich es schaffen, beiden Kindern und meinem Mann gerecht zu werden?