Weihnachten ohne Papa

Foto: André Hansmann

Es ist die Zeit der fröhlichen Gesichter auf den Weihnachtsmärkten. Sie haben gerötete Bäckchen vom heißen Glühwein oder vom vielen Lachen und Staunen bei weihnachtlichen Krippenspielen. Es duftet nach Orangen, Zimt und Schneeflocken. Kennt ihr den Geruch von Schneeflocken? Dieser Geruch von klirrender Kälte mit einem Hauch Regen? Ich liebe es. Überall glitzern Lichterketten in den Fenstern. Die Stimmung ist ausgelassen und entspannt. Die Weihnachtszeit ist einfach wunderschön für mich – seit ich Kinder habe, mit denen ich das Teilen kann. Seit drei Jahren ist sie aber auch tieftraurig für mich…

3 Jahre ohne Papa

Im Februar naht der dritte Todestag meines Papas. Er starb vor knapp 3 Jahren nach jahrelangem Kampf. Im Alter von 51. Krebs. Erst im Bein, dann in der Lunge, dann überall. Er hat hart gekämpft und doch verloren. Das letzte Mal sah ich ihn nur wenige Tage zuvor im Krankenhaus – oder besser – das was von ihm übrig war. Er war mehr eine schemenhafte Gestalt. Abgemagert. Die Wangen eingefallen. Die Haut lasch. Die Haare weiß, das Gesicht kreidebleich. Meine Tante war auch da. Es gab Kaffee und er hat versucht aus der Tasse zu trinken. Vergebens.

Er nahm sie in seine zittrigen Hände und hat sich beim Versuch zu trinken mit dem Kaffee überschüttet. Er hat verlegen gelächelt. Ganz kurz blitzte das verschmitzte, bubenhafte Lächeln hervor, was ich über all die Jahre gekannt und geliebt hatte. Dann wurde sein Gesicht zu einer mir fremdartigen Maske. Beinahe bedrohlich. Meine Tante lächelt auch. Sie hat versucht es humorvoll zu nehmen, hat ihn sauber gemacht und geholfen den Kaffee zu trinken.

Ich werde diese Szene nie mehr aus meinem Kopf streichen können. Mein Papa der immer so stark war, der trotz des Krebs standhaft war und viele Therapien über sich ergehen lies… Dieser Papa, das war er nicht mehr. Er sah aus wie ein Greis. Ein 90-Jähriger Opa, der sich nicht mehr selbst verpflegen konnte. Es war so schrecklich ihn so zu sehen. Ich fühlte mich unglaublich hilflos, wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte. Aufstehen und auch helfen? Oder wäre das übergriffig? Käme er sich dann ebenfalls hilflos und schlecht vor? Mitlächeln? Nichts tun? In diesem Moment fühlte ich mich, wie ein kleines, nutzloses Mädchen. Es war zu viel.

Ich habe einfach nichts gesagt

Wenig später verlies meine Familie den Raum und ich hatte ein paar Minuten mit meinem Vater – allein. In diesen Minuten hätte ich meinem Papa gern unzählige Fragen gestellt: Warum bist du nicht zu meiner Hochzeit gekommen? Wann haben wir uns so voneinander entfremdet? Wieso haben wir nicht mehr miteinander gesprochen? Warum hast du mich als junge Frau nicht im Studium unterstützt? Warum haben wir in den letzten Jahren nicht mehr Zeit miteinander verbracht? Warum verdammt nochmal ist alles so scheiße gelaufen?

Gesagt habe ich praktisch aber: Gar nichts. Nicht einmal, dass ich ihn lieb habe. Nichts verdammt! Er wollte, dass ich ihm nach draußen helfe. Auf den Balkon. Er wollte eine Rauchen. Jetzt war es ja eh schon egal. Doch selbst dieser einfache Vorgang – Kippe anzünden und rauchen – kostet ihn so viel Kraft. So unheimlich viel Kraft… Ich stand neben ihm und schwieg ihn an. Bis heute tummeln sich die Fragen in meinem Kopf. Warum habe ich nichts gesagt? Habe die Situation zwischen uns nicht bereinigt? Und: Hätte es was geändert, wenn wir drüber gesprochen hätten? Diese Fragen bleiben auf ewig unbeantwortet. Aber sie kommen ständig hoch. Jahr für Jahr. Besonders zur Weihnachtszeit.

Als wir uns auf den Heimweg gemacht haben, hat er Claire an sich gedrückt und geweint. Wusste er da schon, dass wir uns ein letztes Mal sehen würden? Hat er das gespürt? Ich habe ihn lange in den Arm genommen. Habe versucht ihm Liebe zu schenken und versprochen, dass ich am Wochenende wieder kommen würde. Da würde er schon tot sein…

An Weihnachten fehlt er besonders stark

Warum ich euch davon erzähle? Gerade jetzt? In der Zeit der Liebe und Wärme? Weil er mir gerade jetzt so unheimlich fehlt! Kürzlich hatte ich nachts einen Traum: Ich habe ihn im Krankenhaus (?) besucht. Er hat seine Hand nach mir gestreckt und: „Hallo, meine Große!“ gesagt. Das war mein Kosename bei ihm. Ich nahm seine Hand und lächelte ihn an. Dann verschwamm er, die Szenerie hat gewechselt…

Nur 2 Monate vor seinem Tod waren wir bei ihm zu Haus. Mein Bruder hatte mit ihm gekocht: Es gab die tollen Serviettenknödel, die ich seit meiner Kindheit Jahr für Jahr bei ihm aß. Und Wild. Jedes Jahr gab es zu Weihnachten Wild – meist frisch vom Jäger. Wir saßen am großen Tisch, haben gegessen, waren ausgelassen. Ich habe kiloweise Spätzle und Knödel verdrückt  die waren seine Spezialität. Wir haben letzte gemeinsame Momente ausgetauscht. Hätte ich das nur gewusst…

Die Müdigkeit legte sich um ihn

Ich erinnere mich, dass er versucht hat Kraft aufzubringen, um mit uns ein Gespräch zu führen. Aber er war müde. So sehr müde… Er hat sich auf die Couch gelegt und ein wenig geschlafen. Wir mussten am Nachmittag fahren. Ich wollte nicht. Irgendwas in mir wollte bei ihm bleiben und nicht gehen. Irgendwas in mir hat gespürt, dass wir nicht mehr viel Zeit haben. Er wirkte schon da sehr zerbrechlich, aber noch nicht so schlimm, wie im Krankenhaus. Dennoch sind wir gefahren. Ich bereue es noch heute. Kurze Zeit später ging es ihm laut Werten besser – der letzte Höhepunkt ehe es rasant abwärts gehen sollte…

Wenn ich an Weihnachten denke, sehe ich mich und meinen Bruder mit ihm in der Küche stehen. Wir backen kiloweise Plätzchen: Ausstecher, Zimtsterne, Nussecken. Es war unsere gemeinsame Weihnachts-Tradition. Wir brachten immer ein Tütchen selbstgebackener Kekse mit zu unserer Mutter. Als ich selbst anfing für meine Kinder zu backen, habe ich ihm Kekse mitgebracht. Es war eine Art kleines Dankeschön, an die vielen schönen Stunden in der Küche mit ihm (Backen war seine Passion).

Jetzt backe ich die Kekse mit meinen Mädels. Wir naschen Teig und haben Spaß. Und bei jedem Keks muss ich an ihn denken und bin glücklich, dass ich die schönen Erinnerungen an ihn habe. Und ich bereue es, dass mein Papa Marie niemals kennenlernen durfte. Er würde sie lieben. Sie wird ihren Opa Peter niemals kennenlernen. Er wird immer nur eine Gestalt aus Erzählungen und Bildern sein. Das stimmt mich so traurig…

Warme Kindheitserinnerungen

Mein Papa hatte immer einen schönen Weihnachtsbaum im Wohnzimmer stehen. Das Wohnzimmer mit dieser richtig tollen Heizung, vor die wir uns immer gekuschelt haben, wenn wir gefroren haben. Mit der alten, braunen, aber mega-kuschligen Couch. Da hat Papa oft geschlafen, wenn wir zu Besuch waren. Er war schon immer müde. LKW-Fahrer eben. Aber die bleierne Müdigkeit seid der Erkrankung war neu. Und anders. Zerstörerischer. Ich habe es nur zu spät erkannt erkennen wollen.

Mir fehlt der Weihnachtsbaum mit den roten Kugeln und dem Lametta. Mir fehlt das Kuscheln im Wohnzimmer. Mir fehlt meine glückliche Kindheit, die ich bei ihm verbracht hatte. Es war schön bei ihm. Wir haben am Wochenende sogar jedes Mal gekuschelt! Wir krochen am frühen morgen immer zu ihm ins Familienbett – es war kuschlig warm. In Gedanken bin ich manchmal wieder diese kleine Mädchen, dass sich Sonntag morgens in Papas Bettschleicht, unter die Bettdecke kriecht, seinen Duft einatmet und geborgen und glücklich einschläft.

Papa, du fehlst mir. Ich wünschte du hättest Marie kennengelernt. Ich liebe dich.