Gastbeitrag zur Elternschule von Jakob

Elternschule: Diese Denke muss doch irgendwann einmal zu überwinden sein

Unsere Haltung Kindern gegenüber hat sich in weiten Teilen der Bevölkerung, und wie wir in dem Film Elternschule sehen können auch unter Therapeuten, immer noch nicht völlig von ihrem Erbe aus dem vorigen Jahrhundert emanzipiert. Am Anfang des 20. Jahrhunderts, im Kaiserreich, wurden Kinder noch mit strengster preußischer Disziplin erzogen und der Macht der Eltern unterworfen. Mittels körperlicher Züchtigung wurde sie regelrecht abgerichtet.

Der bekannte Film „Das weiße Band“ zeigt sehr eindrücklich und authentisch wie der Hass damals in die Kinderseelen kam.

Die  gute nationalsozialistische Mutter

Im dritten Reich wurden die Erziehungsmethoden dann von höchster Stelle dahingehend „verfeinert“, dass eine gute nationalsozialistische Mutter ihre Kinder möglichst kaltherzig und empathielos zu erziehen hatte, damit sie möglichst wenig Bindung zu den Eltern entwickeln konnten (vgl. Johanna Haarer – Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind). Denn der Führer brauchte ein Heer starker, junger Männer und Frauen, deren erste und einzige echte Bindung die zum Führer sein sollte. Nicht nur die Bindung, auch die Bildung einer eigenen Identität sollte unterentwickelt bleiben, damit sie später den Befehlen des Führers bedingungslos gehorchen würden.

Mit dem Untergang des 3. Reichs verschwand aber dieses Bewusstsein und der damit verbundene Erziehungsstil natürlich nicht von heute auf morgen. Die unterschwellige bis offene Verachtung der Gefühle des Kindes und seiner emotionalen und körperlichen Bedürfnisse reichte bis in die 50er, 60er, ja sogar 70er Jahre hinein.

Eines können sie von Anfang an: Beziehung

Die moderne Bindungsforschung kann heute aber endlich belegen, was emphatische Eltern seit jeher wussten, nämlich dass Kinder von Anfang an mit weitreichenden Wahrnehmungen und Empfindungen ausgestattet sind, obwohl sie zu Beginn noch nicht zwischen sich selbst und der Umwelt unterscheiden können. Sie haben zunächst noch kein Ichgefühl und fühlen sich mit der Mutter immer noch Eins, aber eines können sie von Anfang an: Beziehung!

Seit der Entdeckung der Spiegelneuronen weiß man, dass Kinder auch schon früh Mitgefühl erleben und sich in andere einfühlen können auch ohne, dass man es ihnen durch Erziehung vorher eingetrichtert hat. Und die Neurowissenschaften können heute zeigen, dass derartige Erziehungsmethoden, wie sie von dem Therapeutenteam im Film unters Volk gebracht werden, regelrechte Schäden in den Gehirnen der Kinder hinterlassen.

Veraltetes Menschenbild

In der gezeigten Klinik scheint dieses Wissen weitgehend ignoriert zu werden. Das problematische Verhalten von Kindern wird nicht als Symptom eines tieferliegenden Problems in ihren Gefühls- und Bedürfnisstrukturen gesehen, sondern es wird ausschließlich behavioristisch gedeutet. Was im Inneren der Kinder vorgeht interessiert nicht, sie sind für die Therapeuten nur eine Blackbox, die vorne nur den richtigen Input braucht, damit das erwünschte Verhalten hinten raus kommt.

Dass das Innenleben eines Kindes für sie keinen Wert zu haben scheint, muss man scharf kritisieren, so wie auch das scheinbar dem zugrunde liegende antiquierte Menschenbild, das hier durchscheint, nicht zuletzt in der Art und Weise, wie hier über Kinder gesprochen wird.

Kinder als knallharte Egoisten

Da heißt es dann, Kinder manipulieren, sie sind knallharte Egoisten, machen einen Belastungstest mit den Eltern, die Zeit des Prinzessinnen-Seins sei jetzt um, das Kind müsse jetzt was tun oder das Kind darf nicht der Chef sein (was natürlich stimmt, denn das wäre auch eine völlige Überforderung resultierend aus emotionaler Vernachlässigung).

Immerhin versucht der leitende Therapeut Dietmar Langer das Verhalten eines Säuglings auch evolutionspsychologisch zu erklären, indem er sagt, „er schreit, weil er überleben will, er kann sich nicht anders äußern“, um ihm im Nachsatz aber gleich wieder vorzuwerfen,“ wie es mir (den Eltern) damit geht, ist ihm scheissegal“.

Machthungrige Kinder?

Dies alles unterstellt den Kindern, sie seien in einem schlechten Sinne strategisch, faul, machthungrig und wollten die eigenen Eltern nur ihrem Willen unterwerfen. Reflexartig und wie selbstverständlich unterstellt Langer dem Mädchen, das beim Lauftraining seine Mütze verloren hat, dass es sie vorsätzlich weggeschmissen hat (selbst die hinterherlaufenden Kameraleute schützen das Kind nicht, denn sie bekommen ja die Bilder, die sie wollen).

Sein Rezept dagegen lautet: strikte Grenzen zu setzen, und das möglichst frühzeitig, denn, so Langer: „ich muss nicht so lange warten, bis ich mit dem Rücken zur Wand stehe, denn das Theater kriege ich ja sowieso, dann kann ich auch gleich die Grenzen so setzen, dass es für mich vom Alltag her erträglicher ist“.

Solch ein Satz aus dem Mund eines Arztes oder Therapeuten, also einer fachlichen Autoritätsperson, hat, wenn er nicht in einen Zusammenhang eingeordnet wird, das Potential, tausende kleiner Kinderseelen schwer zu beschädigen.

Kein Patentrezept für den Alltag

Wer den Titel des Films so interpretiert, wie er nun mal leicht misszuverstehen ist, nämlich als Elternschule für den Alltag, der wird sich nur zu gerne der vorgeführten Rezeptur bedienen, um die kleinen „Blagen“ zur Raison zu bringen und ihnen mit willkürlich gesetzten Grenzen die Befriedigung lebensnotwendiger Grundbedürfnisse nach Beziehung zu verwehren. Nur damit Papi sich mit seinem Feierabendbier an der Playstation vergnügen und Mutti sich beim daddeln mit ihrem neuen iPhone vom anstrengenden Arbeitstag erholen kann.

Und wenn Langer an einer anderen Stelle im Film sagt: „Kinder müssen die Führung ihrer Eltern auch körperlich spüren“ und nicht erklärt, was er damit meint, dann lässt das einen wirklich üblen Interpretationsspielraum zu.

Welches Menschenbild hat Langer?

Und damit sind wir meiner Meinung nach bei einem ganz wesentlichen Grundproblem. Am Anfang steht immer die Frage nach dem Menschenbild. Welches Menschenbild haben wir von uns selbst und welches Menschenbild wollen wir unseren Kindern mit auf den Weg geben? Sollen sie später einmal zu sich selbst ja sagen können, genauso wie auch zu anderen Menschen? Wollen wir, dass sie später einmal in der Lage sind, sich gegenseitig einen Vertrauensvorschuss zu geben, weil sie an das Gute im Menschen glauben?

Oder begegnen wir unseren Kindern mit Misstrauen, weil wir es aus unserer eigenen Erziehung nicht anders kennen? Sehen wir sie als leere Gefäße, die erst noch mit Menschlichkeit gefüllt werden müssen (Langer sieht sie als „… knochenharte egoistische Wesen, die alles daran setzen, ihre Eltern laufen zu lassen“).

Oder betrachten wir sie gleich als ein Bündel egoistischer Triebe, die in einem natürlichen Spannungsfeld von Feindschaft zwischen Eltern und Kind erst noch sozialisiert werden müssen, bevor sie vollwertige Menschen mit vollwertigen Menschenrechten sind?

Oder haben wir als Erwachsene vielleicht doch den Mut und trauen uns, in ihnen lieber das Gute, das Kooperative sehen zu wollen, ein kreatives Potential (über das alles sie zweifellos schon früh verfügen), welches aber nur mit viel Mühe gehegt und gepflegt werden muss, damit sie die Dinge später einmal besser machen können als wir es bisher geschafft haben und damit sie später ihrem Nächsten nicht von vorne herein als Konkurrent und Gegner begegnen.

Elternschule: Kinder machtvoll in den Rahmen pressen

WIR müssen das Fundament legen

Dies alles darf man auch nicht allein auf der individuellen Ebene betrachten. Im Hinblick auf unsere großen Menschheitsprobleme wie Klimawandel, Ökokatastrophe und einem fortwährend neue Ungerechtigkeiten produzierenden Weltwirtschafts- und Finanzsystem, welches die Menschheit in eine neue Völkerwanderung hineintreibt, darf man die gesellschaftliche Ebene nicht außer Acht lassen. Diese Probleme haben wir alle selbst verursacht, wir, die als Kinder noch viel öfter mit Gewalt oder deren Androhung erzogen wurden.

Daraus haben wir gelernt, mit Drohgebärden durch die Welt zu gehen, und dass subtile oder strukturelle Gewalt auszuüben in Ordnung ist. Wenn wir aber in Zukunft eine gerechtere Welt wollen und von einer Welt ohne Kriege nicht immer nur träumen wollen, dann müssen wir beim Fundament einer Gesellschaft anfangen, bei unseren kleinen Kindern. Ihre Würde ist die wichtigste Ressource, die es für eine lebenswerte Zukunft gibt.

Kinder können noch keine Rücksicht nehmen

Kinder haben nicht nur ein Recht auf eine gewaltfreie Erziehung und Stillung ihrer grundlegendsten, lebensnotwendigen Bedürfnisse nach Schutz, Sicherheit, Wärme, Körperkontakt u.s.w.. Nein, sie bringen auch eine eigene Würde von Anfang an mit auf die Welt und dies verlangt uns ab, ihnen mit Respekt vor ihrer ureigenen Individualität und ihren natürlichen Bedürfnissen zu begegnen, denn jedes Kind ist anders.

Und diese Würde fordern sie auch berechtigterweise ein. Sie wollen als der, der sie sind, und dafür, wie sie sind, von Anfang an geliebt werden und nicht für das, was sie tun oder lassen zum beliebigen Wohlgefallen der Eltern oder anderer Leute. Und dafür kämpfen sie, auch indem sie sich selbst schwierig verhalten in einer schwierigen Umgebung.

Kinder sind noch zu schwach und können keine Rücksicht auf uns und diese „komischen Bedürfnisse“ der Erwachsenen nehmen, wenn unsere Gesellschaftsstruktur wenig Rücksicht auf ihre natürlichen und entwicklungsnotwendigen Bedürfnisse nach wohlwollenden Beziehungen nimmt.

Kinderfeindliche Welt

Wir leben in einer zutiefst kinderfeindlichen Welt, einer Welt voller bunter und süßer Versuchungen, die die Kinder magisch anziehen (sollen). Doch wenn sie danach greifen, hagelt es für sie völlig unbegreifliche Verbote bis hin zu Schlägen auf „das böse Händchen“. Wenn unser Leistungswahn und der Konsumterror die Menschen massenhaft in die Depressionen treibt, beide Elternteile arbeiten müssen, um die Miete bezahlen zu können – oder der SUV vor der Tür wichtiger ist als das Kind daheim – dann ist es auch eine Art Verbrechen gegen die Menschlichkeit, wenn die Kinder als die letzten und schwächsten Glieder in der Kette darunter zu leiden haben.

Wie sollen Kinder diesen Druck gesund an ihrer Seele überstehen, wenn die Erwachsenen schon darunter zerbrechen. Und Kinder haben niemanden mehr als Puffer unter sich, an dem sie den Druck abfedern können.

Der soziale Uterus

Sehen wir es doch einmal so: unsere Menschenkinder werden von der Evolution, im Gegensatz zu unseren Primatenverwandten, gezwungen als regelrechte Frühgeburten zur Welt zu kommen, weil sie sonst mit ihrem großen Kopf nicht mehr durch das Becken der Mutter passen würden. Aus diesem Grund brauchen sie (um die verkürzte Schwangerschaft auszugleichen) anschließend noch mehrere Jahre einen „sozialen Uterus“ außerhalb des Mutterleibs.

Bei Naturvölkern sind die Kinder beinahe den ganzen Tag am Körper der Mutter. Sie schlafen nicht nur bei ihr, Tags werden sie auf dem Rücken getragen oder sitzend auf der Hüfte. Die Mutter ist zumindest immer in Sicht- oder Hörweite. Und dort schreien die Kinder kaum. Wenn sie unruhig werden und anfangen zu weinen, werden sie sofort beruhigt, indem sie gestillt werden, manchmal vier Mal in der Stunde und nicht wie bei uns einmal in vier Stunden und Nachts sollen sie dann sogar noch acht oder zehn Stunden still und allein da liegen und angstfrei schlafen, ohne zu wissen, ob die Mutter überhaupt noch in der Nähe ist, um sie im Fall eines Falles zu beschützen.

Unsichere Mama, unsicheres Kind

Mit einer souveränen, selbstsicheren Mutter, die sich relativ Angstfrei in der Welt zuhause fühlt (und dieselbe Eigenschaft dann wahrscheinlich auch dem Kind über ihre Gene mitgegeben hat), geht das vielleicht. Aber eine unsichere Mutter wird die Angst auf ihr Kind übertragen und darum wird es nachts schreien, wenn es allein in seinem Bettchen liegt. So sieht man in dem Film Mütter, die mit ihrem Kind traumatisierende Geburtskomplikationen erlebt haben. Wenn sie dann die Erfahrung machen, dass sie aufgrund der erlebten Stresssituation ihr Kind nicht erfolgreich beruhigen können, überträgt sich die Verunsicherung wiederum auf das Kind, so dass es sich nicht sicher fühlt und weiter schreit.

So kommt es beinahe zwangsläufig zum Teufelskreis. Daran ist aber niemand Schuld. Das Kind schon mal gar nicht.

Für die Therapeuten der Klinik wird das Kind dann kurzerhand als „regulationsgestört“ stigmatisiert. Damit machen sie das Opfer zum Täter (und zeigen das dann auch noch im Kino). Ist es denn nicht vielmehr so, dass unsere auf Effizienz und Leistung getrimmte Umwelt regulationsgestört ist im Umgang mit dem Kind?

Babys müssen manipulieren

Und wenn man schon (wie im Film) unbedingt von Manipulation sprechen will, dann muss man erkennen, dass z.B. Säuglinge naturgemäß ihre Umwelt sogar manipulieren müssen, um zu überleben. Sie müssen nämlich durch Schreien in ihrer Mutter unangenehme Gefühle verursachen, damit diese kommt und das Kind füttert, es warm hält oder die Angst vor den Gefahren des Alleinseins tröstet. Über die Biologie kann man sich nicht einfach hinwegsetzen und der Mutter sagen, wenn das Kind schreit, dann zieh dich zurück.

Wenn Kinder in ihrer Frühzeit die Eltern nicht genügend zu ihrer Bedürfnisbefriedigung beeinflussen dürfen, dann fehlt ihnen etwas an Schutz und Sicherheit, und sie werden später mit anderen Mitteln versuchen ihre Bedürftigkeit doch noch zu stillen. Nur nennen wir das dann quengeln oder ungezogen-sein und bestrafen sie dafür.

Urängste sind nicht zeitgemäß

Unsere Babys sind ja von ihrer genetischen Ausstattung her immer noch Steinzeitbabys mit all ihren überlebenswichtigen Ängsten vor dem Verhungern, dem Erfrieren, sogar dem Gefressenwerden. Das sagt auch Langer in dem Film, nur zieht er andere Schlüsse daraus. Wenn die Kinder die natürliche, genetisch fixierte Angst vor Dunkelheit beim Schlafengehen zeigen, so sagt Langer, sei das in der Steinzeit das richtige und ein gut angepasstes Verhalten gewesen aber heute gelte das nicht mehr. Die Kinder seien in keiner existentiellen Not mehr, wenn sie nachts schreien.

Es gebe keinen Grund dafür, denn so Langer: „bei uns gibt es keine Hyänen mehr“.

Langer sagt auch eingangs des Films, wenn das Kind auf die Welt kommt, dann hat es keine Ahnung von der Welt, es weiß nicht, wie die Dinge zusammenhängen und sieht nur Chaos. Das sieht er immerhin ganz richtig, aber auch an der Stelle zieht er die falschen Schlüsse daraus, denn der Instinkt des Kindes weiß nicht, dass nachts im Kinderzimmer keine Hyänen herumlaufen. Seine Therapiemethode nimmt darauf keine Rücksicht. Er gibt zwar zu, dass Kinder dieses urzeitliche Programm noch in sich tragen, aber er macht nicht im Geringsten, den Versuch sich die dazugehörigen, völlig natürlichen Gefühle vorzustellen und sich in das Leiden der Kinder einzufühlen.

Eigene Kindheit vergessen?

War er denn nicht selbst einmal solch ein kleines verzweifeltes Kind? Hat er das vergessen oder will er durch seine kleinen Patienten nicht mehr daran erinnert werden, indem er die Signale seiner Spiegelneuronen einfach unterdrückt? Er verlangt bereits vom Kind, dass es sich mit seinem nicht mehr auf die heutige Umwelt passenden genetischen Programm an unser Umwelt anpasst und nicht umgekehrt. Wir sehen doch, wie schwer es uns Erwachsenen immer noch fällt, uns mit unserem urzeitlichen Programm an die moderne Lebensweise anzupassen.

Dahinter steckt eine weitere verzwickte Fragestellung, über deren Antwort wir uns anscheinend nicht einig sind: wollen wir, dass bereits die Kleinsten und Unverdorbensten sich, trotz ihrer sie stark bestimmenden urzeitlichen Anlagen, übergangslos den modernen Umweltverhältnissen, einschließlich aller negativen Auswirkungen eines völlig aus dem Ruder gelaufenen Wirtschaft- und Finanzsystems, das immer neue Ungerechtigkeiten und laufend neue Gewalt erzeugt, anpassen? Oder wollen wir unsere von uns selbst geschaffene Umwelt nicht lieber etwas besser den natürlichen Bedürfnissen des Menschen anpassen?

Wie man in den Wald hinein ruft…

Dietmar Langer sagt selbst im Trailer zu dem Film: „wir machen uns Bilder …. wie betrachte ich mein Kind?“ und „es ist der qualitative Sprung jetzt völlig anders über sie (das Mädchen) zu denken“. Wenn wir unsere Kinder als manipulierende Egoisten, die uns ja nur in einen Machtkampf verwickeln wollen, sehen, dann schallt es später aus dem Wald so heraus, wie wir hineingerufen haben und die Kinder werden uns zum Feind. Und dann reagieren wir auf sie mit subtiler oder gar offener Gewalt. Wenn wir aber die nötige Empathie aufbringen, ihre Bedürfnisse und Ängste zu verstehen, dann können sie uns zu dankbaren und kooperativen Partnern werden.

Kinder spüren jede kleine Anspannung und Unsicherheit der Eltern und bemerken sofort, wenn die Mutter oder der Vater, aus Angst, ihnen könnte die Kontrolle über das Kind entgleiten oder es könnte ihnen auf der Nase herumtanzen, etwas von ihnen erzwingen will (auch wenn das Ziel zweifellos gut für sie wäre). Aber sofort verspüren sie ein Alarmsignal und es startet augenblicklich ihr Schutzmechanismus der Trotz: nein, nein …, ich mag nicht …, ich will aber …!

Trotz ist eine Angst

Eine Mutter sagt zu Beginn des Films, „wenn das hier nicht klappt, dann muss er in ein Heim, ich mache das nicht mehr mit“. In der Weise wie sie das sagt, kann man sich gut vorstellen, wie sie von Anfang an eine strikte Vorstellung davon hatte, wie das Kind sein soll und wie es zu funktionieren hat und dies im Zweifelsfall vielleicht auch erzwingen wollte. Und da hat Langer sogar Recht, wenn er sagt, „wenn wir als Eltern, das, was das Kind macht, persönlich nehmen, dann sitzen wir schon in der Falle“.

Trotz ist die Angst davor, das eigene Ich, welches das kleine Kind ja gerade erst in sich entdeckt hat, wieder zu verlieren. Dem Kind ist erst langsam bewusst geworden, dass es ein eigenständiges Individuum ist, das sich von allen anderen unterscheidet, selbst handeln und gewisse Bedürfnisse auch schon selbst befriedigen kann.

Wenn das Kind aber spürt, dass die Mutter oder der Vater es zu irgendetwas zwingen will, dann tritt die Angst auf den Plan, dass man ihnen das gerade erst Entdeckte wieder nehmen will.

Ich spreche hier von einer für das Kind ganz schlimmen, existentiell bedrohliche Angst davor, unter Zwang gebrochen zu werden und dabei das eigene Ich zu verlieren. Diese Angst ist eine Art Todesangst, denn der Tod des Ichs auf der psychischen Ebene wäre nichts anderes, wie der Tod des Körpers auf der materiellen Ebene.

Ein Schutzmechanismus

Zusammenfassend gesagt, wenn das noch unsichere Kind das Gefühl bekommt, das Beste und Wichtigste in ihm, sein aufkeimender eigener Wille, soll gebrochen werden, dann kann es passieren, dass es aus Angst vor dem Ichverlust auf Stur schaltet, auch zum eigenen Schaden. Das ist dann aber kein böser Wille, sondern ein gesunder Schutzmechanismus des Ich´s. Und der Schaden, den es sich dadurch möglicherweise zuzieht, ist dann nur der Preis, den es bereit wäre zu zahlen für ein Leben als Individuum mit einem eigenen Willen.

Nur nebenbei erwähnt – es gibt im Übrigen genügend historische Beispiele für heute hochgeachtete Persönlichkeiten, die für ihre Überzeugungen und für das, was sie einmal als wahr und richtig erkannt haben, Nachteile in Kauf nahmen bis hin zu Gefängnis- und Todesstrafen. Sie waren bestimmt keine gebrochenen Kinderseelen.

Der innere Kompass

Zwang- und Gewaltausübung gegen die eigene Integrität ist eine existentielle Bedrohung für so ein kleines unerfahrenes Ich, das noch kein gutes psychisches Immunsystem besitzt. Und je kleiner und schwächer, je weniger widerstandsfähig so eine kleine Seele noch ist, umso mehr muss sie ans Limit gehen, um das fragile Ich vor der gefühlten Bedrohung zu schützen, um so trotziger, sturer und tobender muss die verzweifelte Verteidigung ausfallen.

Ohne diesen gesunden Trotzmechanismus würden Kinder keinen eigenen Standpunkt und keinen inneren Kompass entwickeln, mit dem sie sich empathisch in der Welt orientieren können.

Sie würden sich widerstandslos anpassen und sich gehorsam jeder Gewalt unterordnen, die gerade an der Macht ist und fortan immer mit dem Strom schwimmen. Wenn sie besonders intelligent sind und schon über eine gewisse Ichstärke verfügen, kann es aber auch passieren, dass sie sich nur äußerlich anpassen und innerlich mit der Gesellschaft brechen und nach und nach möglicherweise in Delinquenz, Drogen oder Terror abrutschen.

Kinder für das lieben was sie sind

Es geht hier um einen psychologischen Mechanismus, den bereits bekannte Schriftsteller wie Alice Miller und Arno Gruen in ihren Büchern immer wieder beschrieben haben. Wenn das Kind nicht um seiner selbst willen geliebt wird, also nicht dafür wie es ist, sondern nur für das was es tut, für Gehorsam und Leistung, dann entwickelt es ein falsches, den jeweiligen Bedürfnissen der Eltern angepasstes Selbst und zwar nur aus dem einzigen Grund, damit die Eltern es nicht verstoßen sondern lieben können und seine Versorgung gesichert ist.

Das in ihm angelegte eigene (wahre) Wesen muss es dann um der Anpassung willen weitgehend verleugnen, denn es will ja überleben, und es weiß, dass es auf Gedeih und Verderb von seinen Eltern abhängig ist. Wenn es sich also anpasst und sein wahres Selbst verleugnet, dann wird es zwar geliebt, weil es so artig und folgsam ist, aber es geht dennoch leer aus, weil es in gewisser Weise ja gar nicht mehr es selbst ist.
Die Unliebe der Eltern zwingt das Kind in diese Zwickmühle, aus der es scheinbar kein Entrinnen mehr gibt.

Schäden zeigen sich Jahre später

Es überlebt dann natürlich körperlich ganz gut aber emotional auf Kosten seiner Würde, ein einzigartiges Individuum mit einem eigenen, unabhängigen Willen zu sein. Das ist tragisch für jedes einzelne Kind und höchst gefährlich für eine Gesellschaft, denn wenn das Kind nie einen Respekt gegenüber seiner Würde und seiner Einzigartigkeit erfahren hat, wird es später auch andere Menschen nicht wirklich in ihrer Andersartigkeit und ihrer Würde respektieren können (und natürlich später einmal auch nicht seine eigenen Kinder – so schließt sich der Kreis).

Nun wissen wir, dass Zwickmühlen eben doch mahlen, nur besonders langsam. Ich will damit sagen, dass das, was am Anfang des Lebens in einem Kind erzwungen und gebrochen wurde, im späteren Leben des Erwachsenen jahrelange Therapie und Introspektion erfordert, um wieder abgebaut zu werden und das empathische eigene Selbst wieder zum Vorschein kommen kann.

Denn dieses Gefühl, dass das, was in mir angelegt ist, gut ist und sich entwickeln darf, ist existenziell Notwendig, um später einmal in friedfertiger Form mit anderen Menschen zusammenleben zu können und mit ihnen an einer lebenswerten Zukunft zu arbeiten.

Was haben die Kinder gelernt? Blinden Gehorsam

Eine der Schlussszenen des Films zeigt sehr deutlich, was Kinder in dieser Klinik lernen. Ein Kind wird gefragt, weißt du, was du jetzt zuhause tun musst? Und das Kind antwortet: folgen! Mit dieser Art der Erziehung erzeugen wir Kinder und später Erwachsene, die nicht nur keinen eigenen Standpunkt mehr haben, sondern auch kein Gefühl für sich selbst und andere.

Sie haben keinen inneren Kompass mehr zur Verfügung, um sich in der Welt der Menschen ohne Gewalteinsatz sozial verträglich zu bewegen. Sie bleiben dann auf andere angewiesen, die ihnen sagen, was richtig ist und wo es lang geht. Weil sie keine eigene Identität entwickeln durften, bleiben sie verführbar und werden dann bereitwillig denen folgen, die besonders stark erscheinen, um an deren Macht und Glanz als eine Art ideologischem Ichersatz zu partizipieren.

In Zeiten einer allgemeinen Rückwärtsgewandtheit in der Welt, von Entsolidarisierung, Gewalt gegen Minderheiten und einem Planeten am Abgrund samt seiner Fauna und Flora, wäre es fatal diesen Film als Blaupause für eine gute Erziehung misszuverstehen. Unsere Zukunft braucht lebendige, kreative und empathische Menschen, die friedfertig zusammenarbeiten können, um die kommenden großen Menschheitsprobleme zu bewältigen.

Über den Autor

Jakob W. ist in den 1960er und ’70er Jahren erzogen worden. Er hat ganz bewusst auf eigene Kinder verzichtet, weil er sich teilweise noch gut an seine eigene Kinderzeit erinnern konnte. Er befürchtete, aufgrund des eigenen Mangels hätte er seinen eigenen Kindern nicht die Sicherheit und Liebe geben können, die sie gebraucht hätten.

 

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