Gastbeitrag von Gundi Herget, 22.10.2018
Wir befinden uns im Jahre 2018. Ganz Deutschland ist von überforderten Helikoptereltern bevölkert. Ganz Deutschland? Nein! Eine von unbeugsamen Fachleuten betriebene Klinikabteilung in Gelsenkirchen hört nicht auf, unerzogenen Kindern Widerstand zu leisten.
Hinweis: Der folgende Text erhebt keinen Anspruch auf Sachlichkeit, pädagogische Korrektheit oder objektive Darstellung der Realität. Dafür kommen Schimpfworte vor. Wer die findet, darf sie benutzen.
Keine Helikoptereltern
In den Kinos ist ein Dokumentarfilm angelaufen, er heißt „Elternschule“, gedreht in der psychosomatischen Abteilung einer Kinderklinik in Gelsenkirchen. Die Medien jubeln: Kinoseiten, große Tageszeitungen, allen voran die öffentlich-rechtlichen Sender. Das Geheimnis guter Erziehung, hier wird es gelüftet! Die Art, wie sie jubeln, alarmiert mich. Und kein einziges Mal kommt das Wort Helikopter in Verbindung mit Eltern vor; das Ganze muss ernst sein.
Nach und nach füllt sich meine neu entstandene Filterblase zum Elternschulefilm mit Meinungen und Meldungen selbstbewusster Ärzte, begeisterter Medien, schockierter Eltern und entsetzter Fachleute. Aber um zu verstehen, worum es geht, reicht nachlesen nicht aus. Also gehen wir ins Kino. Ja, das ist ernst.
In den Fängen der Riesenfrauen
Ich sehe Kinder, an denen gezerrt wird. Gefühlt: ständig. Große Erwachsenenhände packen kleine Kinderhandgelenke, schmale Kinderoberarme. Dann wird geklammert, gezerrt, gezogen, auch bei Gegenwehr. Zwei Stunden lang, immer wieder. Mei, dann lass sie halt los, Herrschaftzeiten! schimpft mein Freund an einer Stelle leise und genervt neben mir. Ich weiß schon, warum ich den liebe.
In einer Szene hängt ein kleiner Kinderkörper buchstäblich zwischen zwei Riesenfrauen in der Luft. Warum die Riesenfrauen ihn über den Weg schleifen, statt ihm das zu geben, was er offensichtlich will: Freiheit, erschließt sich mir nicht. Eine gefährliche Straße, auf die er rennen könnte, ist nicht im Bild.
„Für jeden, der selbst Kinder hat, ist »ELTERNSCHULE« ein Muss. Auf kleinstem Raum lassen sich Konzepte der Menschenführung und ihre Wirkung studieren.“
Kritik zu Elternschule, epd Film, Martina Knoben, 21.9.18
Mittelfinger? Gut so!
Ich sehe einen kleinen, zornigen Jungen. Er sitzt neben seiner Mama. Als er die Kamera registriert, schickt er eine Grimasse herüber: hör auf! Aber die Kamera läuft. Der Junge schickt noch eine Grimasse, der Kameramann soll tot umfallen, mindestens. Ja, genau, denke ich, zeig’s dem Arsch. Der darf das nämlich nicht, wenn du das nicht willst, Junge, dich einfach filmen. Aber der Kameramann fällt nicht tot um. Der Junge zeigt die stärkste, böseste, gefährlichste Geste, die er drauf hat, die eine schlimme, verbotene, für die man richtig geschimpft wird, aber egal jetzt. Er droht mit der Hand in Richtung Kamera, den Mittelfinger hoch.
Irgendwie beruhigt mich das. Der weiß, dass ihm ein Unrecht geschieht, und wehrt sich. Das jedenfalls halte ich für, sagen wir, gesund. Als wir später über die Szene sprechen, sagt mir mein Freund, was er in dem Moment gedacht hat. Komm schon, hat er gedacht, du hast noch einen zweiten Mittelfinger, nimm den auch noch dazu. Unsere Erlaubnis hätte er.
„Ein Film, der wichtiger nicht sein könnte, zeigt er doch sowohl die Notwendigkeit, Eltern wieder in den pädagogischen Diskurs mit einzubeziehen, als auch, wie gefährlich die (pädagogischen) Freiheiten unserer Gesellschaft im Grunde sind.“
Axel Timo Purr
Traurige Esser
Ich sehe Kinder am Esstisch und wie ein Mädchen wütend etwas an die Wand wirft, eine Gabel, einen Löffel? Ha! denke ich, willkommen im Club! Wenn ich richtig, richtig wütend bin, schmeiße ich auch manchmal Sachen. Ganz selten nur, ehrlich! Und dann werde ich nicht bestraft, ich bin erwachsen. Das Mädchen noch nicht. Die Strafe? Essensentzug. Moment mal, von wann ist der Film?
Ich sehe Kinder, die stumm vor Tellern sitzen, Kinder, die weinen, weil sie essen sollen, Kinder, die weinen, weil sie nicht essen dürfen, Kinder, die sich übergeben. Sagt man nicht, etwas kotzt mich an? Was kotzt diese Kinder an? Essen ist toll, essen macht Spaß und satt, nicht nur im Bauch – es muss die Hölle für alle sein, wenn etwas so Einfaches, so Schönes, so Verbindendes jeden Tag zum Desaster gerät. Was könnte man tun, damit diese Kinder wieder Lust auf Essen haben, auf Gemeinschaft am Tisch? Während auf der Leinwand ein Kind schmal und reglos am Tisch sitzt, habe ich trotzige Fantasien von Wettrülpsen, Kirschkernweitspucken, Pudding ohne Löffel essen, Smarties in Kindermünder werfen.
„Wir werden Zeuge, wie Dietmar Langer und sein Team es schaffen, Eltern und Kinder Schritt für Schritt aus dem zermürbenden Teufelskreis zu führen.“
Ludwig Sporrer
Wo ist Mama?
Ich sehe kleine Kinder, die unsicher durch leere Zimmer tapsen und mit winzigen, ängstlichen Stimmen „Mama“ rufen, „Mama“, immer wieder „Mama“, sie suchen, sie tapsen, sie fragen. Ich sehe keine Mama, in deren sichere Arme das Kind zurückkehren könnte. Es tut mir weh, dieses kleine, arme „Mama“. Ich möchte selbst in den Film springen und meine Arme ausstrecken, trösten und halten, tragen und sagen, komm, suchen wir die Mama jetzt mal zusammen, irgendwo muss sie doch sein, wir finden sie bestimmt, ich versprech’s dir.
„Anfangs rebellieren aber nicht nur die Kleinen, sondern auch Mama und Papa, und machen den Therapeuten das Leben schwer.“
Der Dokumentarfilm „Elternschule“, Bayerischer Rundfunk, 11.10.2018
Zombies in der Elternschule
Ich sehe Szenen wie aus einem Horrorfilm: Die Mitarbeiter haben sich in Zombies verwandelt, mit starren Gesichtern, Stimmen ohne Wärme, Gesten ohne Gefühl. Eine Zombiefrau und ein Kind sitzen in einem Raum auf dem Boden, die Zombiefrau lässt etwas auf das Linoleum fallen, ein Plastikteil von einem Steckspiel, es kreiselt auf der Steckseite, das Kind weint und schreit, das Steckteil kreiselt, sie lässt noch eins fallen, das Kind weint und schreit, das Steckteil kreiselt, das Kind weint und schreit, sie lässt ein Steckteil fallen, es kreiselt, das Kind kriecht unter das Waschbecken, als würde es dort Schutz suchen vor der Zombiefrau, und weint und schreit, weint und schreit. Meine Hände sind kalt und schwitzig.
„In der filmischen Erziehungs-Studie „Elternschule“ zeigen Ärzte, wie man Kinder zähmt, wenn sie zu kleinen Tyrannen geworden sind.“
SZ online, 10.10.18, Nein!, von Doris Kuhn
Der trotzige Therapeut
Ich sehe ein zartes Mädchen, das mit dem Therapeuten auf einen Spaziergang aufbricht. Der Therapeut ist riesig neben ihr. Das Mädchen scheint sich zu freuen, es plaudert und lacht, es vertraut. Später weint es. Es will nicht mehr laufen, hat Seitenstechen, der Therapeut sagt, doch, du musst fit werden, wir laufen noch ein bisschen, es muss rennen neben dem Therapeuten. In seiner Not lässt das Mädchen die Mütze fallen, sie laufen weiter. Dann soll es die Mütze holen, aber es will sie nicht holen, es will nicht diesen letzten Rest Selberdürfen, Selberwollen, Selberkönnen auch noch aufgeben, das Kind argumentiert tapfer und schlüssig, aber gegen so viel Erwachsenenübermacht hat es keine Chance, weder verbal noch psychologisch.
Ich denke, hol die nicht, die blöde Mütze, zeig’s dem, soll er sie doch selber holen, die Scheißmütze, ich will wieder in den Film springen und sagen, komm, ich hol dir schnell deine Mütze, wenn der Blödmann da so ein Theater macht, sollen wir dem mal die Zunge rausstrecken?, aber natürlich holt sie am Ende die Mütze, erst dann wird zurückgegangen, der Therapeut hat gewonnen. Toller Sieg. Glückwunsch. Über eine Sechsjährige, höchstens.
„Mit Wut, mit Verweigerung, mit demonstrativer Hilflosigkeit versuchen sie, der Umgebung ihren Willen aufzuzwingen. Das kann dauern, sie haben eine zermürbende Energie.“
SZ online, 10.10.18, Nein!, von Doris Kuhn,
Ich weiß nicht, was ich tun könnte
Ich sehe ein Kind, das einen Schlauch im Gesicht hat. Eine Nahrungssonde. Die ist ganz neu, zu zweit mussten sie da ran, erzählt eine Krankenschwester, um die Sonde in das Kind zu kriegen. Das Kind läuft um einen Tisch, immer um den Tisch, um den Tisch, es ist stumm, es läuft, die Augen weit, weit, es läuft und läuft, ausdruckslos, ringsum rufen Kinder, schreien, weinen. Ich möchte nicht in den Film springen. Ich weiß nicht, was ich tun könnte.
„Das ist die Stärke des Films. Ein zurückhaltender, authentischer und gerade dadurch kraftvoller Blick auf die Suche nach einer guten Erziehung.“
Der Dokumentarfilm „Elternschule“, Bayerischer Rundfunk, 11.10.2018
Film aus, Herz schwer
Am Ende des Films sehe ich das kleine Sondenkind wieder. Es sitzt ausdrucks- und jetzt wieder sondenlos am Tisch und lässt sich füttern. Löffel vor den Mund, Mund auf, Löffel rein, Mund zu, schlucken, Mund leer. Löffel vor den Mund, Mund auf, Löffel rein, Mund zu, wieder schlucken, Mund leer. Ich muss daran denken, wie kleine Kinder aussehen, die lustvoll essen oder besonders eilig, weil sie schnell wieder spielen, lesen, toben möchten. Ich sehe, der kleine Junge isst, apathisch, mechanisch, gehorsam. Mein Herz wird schwer. Die Zombies haben es geschafft.
„Nach drei Wochen können also fast alle Eltern feststellen: die Kinder sind wieder Kinder, vergnügt, aufgeweckt und ausgelassen. Eine tolle Erfahrung.“
Filmdoku „Elternschule“. Das Geheimnis guter Erziehung, WDR, 8.10.18“
Und ein letztes Zitat:
„Die psychosomatische Kinderstation in Gelsenkirchen, sie ist einzigartig in Deutschland.“
kinokino-Videokritik zu „Elternschule“, Bayerischer Rundfunk, 17.10.18
Das zumindest ist beruhigend.
Alternativen gesucht? Schaut unbedingt in Yasmins Blogbeitrag vorbei!
Über Kinderbuchautorin Gundi Herget
Gundi Herget ist Autorin von „Arnold, Retter der Schafheit„, „Bis bald im Wald„, „Kekse!? Die krümeligste Ausrede der Welt“ und weiterer Bücher für Kinder. Bereits mit 4 Jahren hat sie ihre Liebe zu Büchern entdeckt. Mit 10 Jahren fiel der Entschluss Schriftstellerin zu werden. Dennoch hat sie zunächst ihr Abitur gemacht, Literatur studiert, war als Redakteurin tätig und wurde Mutter. Daran erinnert, was sie einst werden wollte, nahm sie Stift und Papier zur Hand und schreibt seither Kinderbücher. Ihr findet sie bei Lovelybooks.
Vielen Dank für diesen gesunden und wunderbar geschrieben Beitrag, zu einem sehr traurigen Thema. Wir können nur hoffen, dass dem beschriebenen Treiben nun rechtswirksam Einhalt geboten wird.
Ja, es bewegt sich was. Jetzt wurde eine zweite Ermittlung (NRW-Ministerium) angekündigt. Es wird Zeit umzudenken.
Ein wunderbarer, wunderbarer Artikel. Zusammenfassend – der Film Elternschule propagiert die Resignation der Kinder(seelen) als Erziehungserfolg.
Es nimmt mich immer noch so mit. Der Artikel ist zauberhaft.Danke dafür. Ich möchte direkt zu meiner Tochter gehen und sie drücken. Ihr sagen, wie toll sie ist. Wie stark. Wie besonders. Stellvertretend für alle Kinder, die so etwas wie im Film miterleben müssen.