Vor knapp 8 Jahren habe ich mein Abitur gemacht. Zu unserem Abistreich hatte sich unser Mathelehrer – Herr Möller Sie waren großartig – bereit erklärt, eine kleine Showeinlage zu liefern. Er hat einen simplen, mathematischen Ausdruck – ich glaube es war 1+1= 0 (ist lange her) – vorgerechnet und verifiziert. Wie jetzt? 1+1 ist doch 2, das weiß jedes Kind. Tja, Herr Möller nahm den Ausdruck, zerlegte ihn in seine Einzelteile, hat einfach alles mit verschiedenen Formeln zerlegt, Wurzeln gezogen, Primzahlen gebildet – hach ich weiß es nicht mehr! Jedenfalls konnte er uns zum Schluss überzeugen, dass 1 + 1 = 0 ergibt. Mit den Mitteln der Mathematik. Die eigentlich als unumstößlich gilt.

Damals dachte ich noch, man könne alle Aufgaben lösen, wenn es nur die richtige Formel bzw. den richtigen Lösungsweg gibt. Schon während der Abi-Phase wurde mir aber klar: Das stimmt nicht ganz. Letztlich muss man mit den vorliegenden Fakten einfach nur verdammt gut argumentieren können. – Interpretationen lagen mir sehr gut – So können bei ein und demselben Fall zwei völlig verschiedene Ergebnisse erzielt werden und sogar richtig sein.

Spätestens im Studium, als ich Psychologie und Medienrecht studiert hatte, wurde klar, dass es nie nur EINEN richtigen Lösungsweg gibt. Man muss mutig genug sein, die zu entdecken, seine Überzeugung gut argumentieren und schon, führen viele Wege nach Rom.

So wie bei meinem Mathelehrer. Er hat so lange argumentiert und die Formel Stück für Stück auseinandergenommen, dass er den einfachsten mathematischen Ausdruck quasi nichtig gemacht hatte.

Viele Wege führen zum glücklichen Kind

Wie komme ich jetzt da drauf? Hier sollte es eigentlich um Eltern gehen. Stimmt. Ich wollte euch von vorneherein eines zeigen: Ebenso wenig wie es nie nur einen Lösungsweg gibt, gibt es nicht DEN Erziehungsstil/-weg/-methode – liebe Eltern. Es gibt nicht die DIE Methode, mit denen alle Kinder glücklich sind. Die alle Kinder glücklich macht. Nicht alle Kinder wollen getragen werden, andere stillen sich schnell selber ab. Manche finden das Familienbett unbequem. Manche kleben an Papa, wie Kaugummi. Manche brauchen Grenzen. Manche möchten frei im Raum herumschweben. Manche brauchen klare Regeln und Erziehung. Was sie aber ALLE brauchen sind Eltern, die mit Herz UND Verstand bei der Sache sind und auch auf ihre Intuition vertrauen können. Diese Intuition scheint einigen Eltern (gefühlt) derzeit abhanden gekommen zu sein. Was mich traurig macht. Und mich verwirrt.

Ich habe ja einige Ratgeber zum Thema Erziehung gelesen. Immerhin wollte ich nicht, dass Claire so aufwächst wie ich: Da spielte Gewalt – körperlich wie seelisch – eine große Rolle. Wir wurden geschlagen – mit der Hand, dem Kochlöffel, dem Gürtel – getreten und beschimpft – „Du mit deinem Brauereigaularsch“. Dass ich mein Kind nicht schlagen wollte war klar. Auch war ich strikt gegen das Schreien lassen im ersten Jahr, habe gestillt, versuchte es mit Tragen und entschied mich sogar für das Familienbett. Wenn Claire bockt und die Welt aus den Fugen gerät, versuche ich mich zu ihr zu setzen und biete meine Arme an – auf Augenhöhe ist das passende Buzzword.. Will sie das nicht, warte ich einfach ab, bis sie auf mich zukommt. Sie wird meistens vor die Wahl gestellt und darf sich selber für Klamotten entscheiden, oder was wir machen. Sie darf auch wild und frei herumgeistern und etliche Dinge ausprobieren, herumklettern, fallen, sich weh tun, aufstehen und Krönchen richten.

Ich versuche ihre Wünsche zu berücksichtigen, sie zu verstehen, aber setze auch klare Grenzen und zeige ihr, dass auch mein Geduldsfaden ein Ende hat. Dann werde ich auch mal laut. Ja. Ich mache auch Fehler, ganz klar. Ich schreie sie nämlich auch manchmal an. Und Sekunden später tut es mir sehr leid. Doch das gehört alles dazu. Das sich lieben, sich trösten, das Fehler machen. Wir lernen aus Fehler. Fehler sind nicht schlimm. Nur dann, wenn man sie immer wieder macht. Wir versuchen die Bedürfnisse aufeinander abzustimmen und aus den Fehlern zu lernen. Wenn die Bedürfnisse kollidieren, muss Papa (oder andersrum) eingreifen (Mama will mal endlich in Ruhe kaggen gehen!). Wenn alles nicht geht, muss das Kind begreifen, dass es gerade nicht so geht. Sei es das zweite Eis, oder der Drang die Couch anzumalen. Wir sagen auch mal Nein. Nicht immer mit nur einem Wort, vielleicht umschreiben wir es auch, versuchen zu erklären. Letztlich ist es aber dennoch ein Nein…

In welche Methode das nun passt, ist mir eigentlich völlig Wurst. Womöglich sind es einige AP-Auszüge, die ich da eingebaut habe. Selbstbestimmt? Unerzogen? Laissez-Faire? Autoritär? Keine Ahnung. Ich habe das gemacht, was sich richtig angefühlt hat. Ich habe mich zurückerinnert, wie es mir damals ging. Was ich mir gewünscht hätte und aus dem Bauch heraus gehandelt. Sicher haben mich auch ein paar Ansätze aus Ratgebern hier und da inspiriert und andere Lösungswege aufgezeigt, die ich so nicht nicht kannte. Das streite ich nicht ab. Aber, ich habe mich nie festgeklammert und einfach probiert, ob es zu mir passt und, ob es in die Familie passt. Immerhin muss mein Mann auch davon überzeugt sein, sonst ziehen wir in verschiedene Richtungen. Das geht nicht!

Jesper Juul hat mich verfolgt

Beim Lesen der Ratgeber wurde ich immer wieder auf einen Namen gestoßen: Jesper Juul. Der Mann hat dies gesagt, der Mann hat das gesagt. Tatsächlich wird Juul als eine Art Erziehungs-Guru gehyped und seine Werke sind wohl eine Art Eltern-Bibel?! Immer häufiger begegnete mir dieser Mann. Nicht nur in Büchern, auch tauchte er plötzlich auf den Blogs seiner Jünger auf. Jünger? Übertreibe ich jetzt nicht? Tatsächlich kann ich aus meinen eigenen Erfahrungen heraus sagen, dass sich bestimmt 99% der Juul-Eltern als eine Art fanatische Sektenmitglieder verhalten und alle davon überzeugen wollen, wie geil der Mann ist. Nur, damit eines klar ist: Ich habe absolut nichts gegen den Mann. Seine Ansätze sind ok, aber ich hänge nicht an seinen Lippen und will es auch nicht. Ebenso wenig will ich allgemein Eltern, die nach dem Juul-Stil erziehen (ja, für mich ist es nach wie vor erziehen, denn der Mensch wird geformt – so oder so) irgendwie verurteilen oder schlecht reden. Ich möchte nur diejenigen, die ständig dabei sind zu missionieren, bitten es zu lassen und darüber nachzudenken, was ihre Vorwürfe anrichten können.

„Erziehung ist Gewalt“ lauten die Parolen, die mit entgegengeschmettert werden. Unnachgiebig. Da gibt es keine Toleranzgrenze, wer erzieht, der ist gewaltvoll. Stempel druf und feddisch!  Wer gegenteiliger Meinung ist, wird in den Boden argumentiert. Wo wir wieder bei den Argumenten wären. Grenzen und Regeln werden so lange „anders definiert“, bis sie plötzlich in Ordnung sind. Erziehung ist Gewalt und Unerzogen wird als „Lebenseinstellung“ definiert. Generell wird sehr viel definiert und „Expertenwissen“ wie das von  „Krätze“ hinzugezogen. Eltern hören nicht mehr auf ihren Bauch, sondern wirbeln wild mit Zitaten aus Büchern um sich. Mir wurde ganz schwindelig, als ich einfach nur feststellen wollte, dass Erziehung eben nicht gleich Gewalt sei…

Gewaltfrei trotz Erziehung?

Sofort sollte ich missioniert werden, in dem eine Grundsatzdiskussion heraufbeschworen wurde. (NEIN; ich will diese Aussage immernoch nicht diskutieren). Etwas, worauf ich mich gar nicht einlassen wollte. Letztlich wollte ich ja nur, dass erziehenden Elter nicht Gewalt unterstellt wird. Denn Gewalt ist nun mal etwas sehr Schlechtes, sodass es eigentlich letztlich heißt: Erziehende Eltern sind Böse. Es heißt: „Nein, wir bewerten ja nur die Handlung als solche als schlecht“. Aber was macht einen Menschen aus? Das, was er sagt und vorgibt zu sein oder seine Handlungen? Für mich sind es ganz klar: Handlungen. Ich handle also böse – also bin ich böse. Genau das sagen Unerzogen-Eltern (Stopp: zumindest alle jene denen ich nun online begegnet bin) aus. Und genau das wollten sie mit ihren 100 Zitaten von Juul und Krätze und wem auch immer beweisen. Da war kein: „Bei uns klappt es nun besser, seid ich dies und das versuche“. Sondern immer nur: Juul sagt dies, Krätze will das. .

Nein, bitte auch jetzt immernoch keine Grundsatzdiskussionen! Was ich will? Toleranz! Und vor allem keine falschen Vorwürfe, die Eltern, die wirklich liebevoll erziehen, richtig weh tun – verdammte Axt nochmal! Wer als Kind geschlagen wurde, oder auch psychisch attackiert worden ist, das Selbstbewusstsein im Keller begraben hat und sogar in Depressionen verfallen ist – der hat Gewalt erfahren. Erziehen ist nicht per se gewaltvoll. Es sei denn, man definiert es so.

Buzzword-Bashing ist der neue Erziehungsstil

Auch jetzt will ich mich nicht mit der Sinnig- oder Unsinnigkeit vom Unerfahren-Stil befassen. Letztlich sollte jeder tun, was er für richtig hält. Ich möchte den Unerzogen-Stil nicht bewerten. Klar habe ich eine Meinung dazu. In Ansätzen bin ich sogar völlig D´accord. Darum soll es aber nicht gehen. Es geht um die Art wie „Unerzogen“ an die Eltern herangetragen wird… Herauszuschreien Erziehung sei Gewalt, macht alle erziehenden Eltern zu bösen Eltern. Denn Gewalt ist nun mal böse. Das finde ich verdammt unfair und ja, auch arrogant.

Neben dem Herumschleudern von coolen Zitaten – manches klingt echt superschlau, keine Frage – „posen“ viele Eltern übrigens damit, dass sie plötzlich nun ganz viel analysieren und sich „selbst reflektieren“ können. Ja, es ist definitiv posen, so wie es immer hervorgehoben wird. Als ob es was Besonderes wäre. Jeder zweite Satz: Ich reflektiere, du reflektierst, er sie es reflektieren…  Auch „erziehende“ Eltern reflektieren. Ja, nicht alle, Stimmt. Aber viele! Jede Mutter, die in einer Mamagruppe, bei Freunden, bei Verwandten Hilfe sucht und nach Rat fragt, reflektiert. Sie hat erkannt, dass es so gerade nicht geht und sucht nach Wegen es besser zu machen. Dafür muss ich weder Juul noch Pädagogik studiert haben. Sie hat einfach im Inneren gespürt, dass sie am Ende des Lateins ist und den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht. Außerdem wage ich es jetzt mal zu behaupten, dass es absolut nicht gesund für die Mama ist, wenn man den ganzen Tag nichts Anderes mehr macht als zu analysieren, reflektieren und zitieren 😉 Echt, da ist der Mama-Burnout (den sogar eine Bloggerin nach einigen Jahren „unerzogen“ erlebt hat) vorprogrammiert.

Lasst es einfach mal laufen, genießt doch das Eltern sein! Kinder sind KEINE Forschungsobjekte.

Uff. Dabei war ich auch mal nicht besser. Auch ich war damals missionarisch tätig. Mit Reboardern. Ich war völlig überzeugt, ok ich bin es noch, sie sind die einzig wahren Kindersitze. Und so habe ich mich stetig in Diskussionen geworfen und habe immer schnell gemerkt, die geblockt wurde. Klar. Weil ich missionieren wollte. So geht es aber gar nicht. Man kann und sollte anderen seine Überzeugung nicht aufzwängen. Man kann sagen, hey es gibt noch einen Lösungsweg, schau ihn dir doch mal an. Das war es aber auch. Also auch ich habe da schon Fehler begangen. Klar. Wer nicht.

Seid mehr Eltern, weniger Wissenschaftler

Zurück zur Erziehung. Die Parole „Erziehung ist Gewalt“ geht mir wirklich gegen den Senkel. Das argumentieren drumherum auch. Das missionieren sowieso. Außerdem kann ich es nicht verstehen, dass Eltern an den Lippen eines Mannes hängen, der ihr Kind überhaupt nicht kennt! Unerzogen soll plötzlich DIE Lösung für alles sein? KEIN Stil ist der Richtige für alle Kinder. Egal wie sie heißen, egal wie sie definiert werden. Es gibt kein Wundermittel. Kinder sind individuell und haben individuelle Bedürfnisse. Was bei einem Kind funktioniert, kann bei einem anderen eine mittelschwere Katastrophe auslösen. Daher gilt nur eines: Experten für die eigenen Kinder sind nur die Eltern selbst (wie es Tante Vanja so schön ausgedrückt hat). Hört auf das für bare Münze zu nehmen, was völlig Fremde sagen. Es können Richtlinien sein, ok.

Aber diese Menschen dann in jedem zweiten Satz zu zitieren und der Überzeugung sein DAS ist das worauf die Welt gewartet hat? Ehrlich, ich finde es höchst beunruhigend, dass plötzlich so viel zitiert und missioniert wird, statt auf den Bauch zu hören. Wann ist es uncool geworden, auf das HERZ zu hören?

Liebe Mamas und Papas. Lernt doch mal euch selbst zu vertrauen, ehe ihr das WOHL eurer Kinder in die Hände eines völlig Fremden legt. Bitte. Sagt lieber wieder: „Ich denke…“, „Mein Kind… „und nicht: „Juul sagt“. Macht EURE Erfahrungen. IHR seid die Profis, IHR kennt eure Kids – nicht der Juul. Seid Eltern, keine Wissenschaftler. Und vor allem: Geht nicht den anderen Eltern an die Gurgel. Es ist wirklich sehr verletzend zu lesen, dass man seinem geliebten Kind angeblich Gewalt antun soll, nur, weil das nun als solche definiert worden ist. Reflektiert doch bitte erstmal über diese Behauptung und was sie in anderen auslöst, ehe ihr zur Selbstreflektion animiert… Hat die Menschheit in euren Augen denn so sehr versagt, dass nun alles laufen muss? Haben unsere Eltern, Großeltern und Urgroßeltern Pädagogen zitiert? Oder haben sie einfach gemacht. Nach Gefühl gehandelt, Fehler gemacht. Seid ihr keine guten Menschen geworden? Was eure Kindheit so scheiße, dass es auf Biegen und Brechen anders gemacht werden muss? Dass ihr euch in Schubladen stecken lasst? Euch dabei manchmal sogar selbst verliert (ja ich lese alle Twitter-Diskussionen und Blogbeiträge)? Hört endlich auf damit! Definiert nicht mehr, analysiert das Nötigste und kombiniert einfach verschiedene Stile, bis sich die gesamte Familie wohl fühlt. Presst euch nicht in Korsetts, die nicht zu euch passen (erst heute wieder gelesen). Akzeptiert, dass es für euch und euer vielleicht nicht den gewünschten Weg gibt, akzeptiert, dass es für andere Eltern, andere Wege gibt. Die Welt ist voll von Schmerz, es muss nicht sein, dass sich Eltern gegenseitig Schmerzen zufügen, oder? 🙂

 

EDIT:

In den letzten Tagen kamen einige Beiträge dazu zusammen. Daher wollte ich sie einfach mal sammeln 🙂

Vanja von „TanteVanjasagt“ meint:

 „Liebe Eltern, lasst Euch Euren Menschenverstand nicht absprechen!

Sonja von „Mama Notes“ wünscht sich:

 „Ich wünschte mir vielmehr, dass wir weniger auf einer persönlichen Ebene diskutierten und aufhörten einander „lebenslange Schaden der Kinder“ oder „XY ist die einzig wahre Lebenseinstellung / Erziehungsmethode / Art und Weise zu leben“ entgegen zu posaunen.

Anna von „The Anna Diaries“ meckert:

Ich verstehe sovieles derzeit nicht und manchmal mag ich gar nicht sagen, dass ich Mutter bin und mein Kind erziehe.

Bea von „Chaoshoch4″fragt sich:

Ist die Berufsbezeichnung “ Erzieher “ dann in Zukunft auch schon eine Beleidigung? 

Chrissy von „Sonnenshyn“ kotzt sich aus:

„Natürlich kann man auch diskutieren und wenn jemand um Rat fragt, dann kann man sicherlich helfen, aber BITTE hört doch auf, EURE Erziehung als einzig wahre für jeden anzusehen.“

Frida Mercury nervt es, dass sich alle immer über Erziehung streiten müssen:

„Unerzogen Eltern sagen: Hier hast du ne Liste, wenn du nicht alles richtig machst, bist du leider so ein „Erziehungsdödel